Süddeutsche Zeitung

Bachelor und Master:Höher, schneller, weiter

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Die Bologna-Reform sollte das Studieren hochwertiger, kürzer und internationaler machen. Ist das gelungen? Zum 20. Geburtstag der Reform ein Faktencheck.

Von Peter Wex

20 Jahre Bologna, das wollen Rektoren, Wissenschaftler und Politiker diesen Monat feiern. Und zwar mit Pomp und Stolz, am Geburtsort der Reform, einmarschiert wird in Talaren. Aber ist die umfassendste Erneuerung des Hochschulwesens seit der Humboldt'schen Bildungsreform vor 200 Jahren wirklich ein Grund zum Feiern? Haben uns Bachelor und Master statt Diplom und Magister so weit gebracht wie versprochen? Machen die jungen Leute im Studium häufiger Abstecher ins europäische Ausland, studieren sie trotzdem kürzer und halten öfter bis zum Ende durch? Und sind sie danach besser für die Praxis qualifiziert? Wer auf solche Fragen ehrliche Antworten will, muss genau hinschauen.

Stichwort Mobilität. Um Studierenden in dem (heute 48 Länder umfassenden) europäischen Hochschulraum den Schritt über Landesgrenzen zu erleichtern, wurden die Credit Points eingeführt. Eine einheitliche Währung für überall erworbene Studienleistungen sollten sie sein. Doch nach Angaben der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) lassen sich etwa ein Drittel der Studierenden von Auslandsaufenthalten abhalten, weil sie Anerkennungsprobleme befürchten. Lauter Hasenherzen? Keineswegs. Der Deutsche Akademische Auslandsdienst beziffert den Anteil der jungen Menschen, deren Leistungen aus dem Ausland nicht anerkannt wurden, mit 34 Prozent. Wenn Politiker dennoch die verdreifachte Zahl von Auslandsstudenten feiern, müssten sie fairerweise dazusagen, dass dem nur so ist, weil die Zahl der Studenten insgesamt immens gestiegen ist. Die Wahrheit: Vom Beginn der Bologna-Reform an stagnierte die Quote deutscher Studierender, die eine Zeit lang im Ausland studieren, zunächst bei 32 Prozent - um in den letzten Jahren auf 28 Prozent zu sinken. Bologna als Mobilitätsmotor? Nur ein frommer Wunsch.

Stichwort Studienzeiten. Die Deutschen studieren zu lang, hieß die Dauerklage vor Bologna. Ob es gelungen ist, das zu ändern, beantworten Daten des Bundesamts für Statistik: Die Gesamtstudiendauer (Bachelor plus Master) ist von durchschnittlich zehn Semestern im Jahr 2006 auf 11,8 Semester im Jahr 2017 gestiegen. Studienabschlüsse innerhalb der Regelstudienzeit sind demnach unverändert selten: Im Bachelor schaffen dies nur 38,5 Prozent, im Master 27 Prozent der Absolventen. Sogar Exzellenzuniversitäten scheitern am Bologna-Wunschdenken. An der FU Berlin brauchten Absolventen laut FU-Statistik für den Bachelor zuletzt 8,5 Semester, für den Master 6,3 Semester - zusammen fast siebeneinhalb Jahre. Damit dauerte ihr Studium länger als das herkömmliche universitäre Diplom, das 1999 laut Wissenschaftsrat 6,9 Jahre beanspruchte. Bologna als Studienbeschleuniger? Nur eine Mär.

Bologna als Studienbeschleuniger und Hochschulverbesserer? Vielleicht im Traum

Stichwort Studienabbrecher. Jahrzehntelang war die hohe Quote derjenigen, die das Hochschulsystem ohne Abschluss verließen, ein großes Ärgernis. Sie betrug nach Berechnungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in den 90er-Jahren 25 bis 27 Prozent. Gebessert hat sich seitdem wenig, heute scheitern im Bachelorstudium über alle Hochschularten und Fächergruppen hinweg 28 Prozent, im Masterstudium immer noch 19 Prozent. Bologna als Studienerfolgsrezept? Ein Fehlschlag.

Stichwort Bachelor. Er sollte nach den Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) der "berufsqualifizierende Regelabschluss" sein , mit dem 80 Prozent der Absolventen direkt in die Arbeitswelt eintreten können. Die reale Entwicklung stellt sich umgekehrt dar: Heute studieren durchschnittlich rund 80 Prozent der Bachelorabsolventen im Master weiter, rechnete das DZHW 2016 vor, an den Universitäten sogar mehr, an den Fachhochschulen dafür weniger. Bologna als ein klug auf den Arbeitsmarkt abgestimmtes Graduiertensystem? Mitnichten.

Stichwort Hochschulqualität. Ein zentrales Anliegen auf der Bologna-Konferenz vor 20 Jahren, festgehalten in einer Erklärung der 30 Gründerstaaten, war die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulen. Sie sollten besser werden, besser forschen, besser lehren. Und wie gut passte zur Idee des europäischen Hochschul- und Forschungsraums die ein Jahr später beschlossene Lissabon-Strategie: Die EU wurde dazu bestimmt, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Doch dieses Ziel ist völlig aus den Augen verloren worden, es wird in den Hochschulen überhaupt nicht mehr erwähnt. Bereits 2017 stellte die Europäische Kommission Bildung in ihrem Bericht an das Parlament lapidar fest, dass selbst die leistungsstärksten Mitgliedsstaaten mitsamt ihren Hochschulen von den fortschrittlichen asiatischen Ländern abgehängt worden seien. Bologna, ein Hochschulverbesserer? Vielleicht im Traum.

Wie aber kann es angesichts dieser Bilanz sein, dass die Verantwortlichen den Bologna-Prozess grundsätzlich positiv sehen, ja sogar feiern? Im Abschlussdokument der Pariser Ministerkonferenz im Mai 2018 halten die Staatsvertreter fest, sie seien stolz auf das Geleistete. Neue Aufbruchziele, die Rückbesinnung auf humanistische Werte, die Europa einen, und die Wahrnehmung von sozialer Verantwortung, das waren die - eher wolkigen - Befunde. Das Interesse an einer handfesten Bestandsaufnahme fehlte offenbar.

Schon der von KMK und Bundesbildungsministerium verfasste Umsetzungsbericht zu Bologna im Vorfeld der Pariser Konferenz vermied die Selbstprüfung. Aussagen zur Studiendauer, einem der Hauptstreitpunkte bei der Abschaffung des Diploms, fehlen beispielsweise völlig. Soweit der Bericht überhaupt Zahlen anführt, belegen diese oft das Gegenteil des behaupteten Erfolgs. Anja Karliczek aber war voll des Lobes: "Deutschlands Hochschulsystem ist europäisch exzellent vernetzt, attraktiv und anschlussfähig", sagte die Bildungsministerin.

Auch ein Symposium vor wenigen Wochen in Hannover ließ mutige Debatten vermissen. Zwar hatte der Mitgastgeber HRK zuvor ein Dossier vorgelegt, um die Fakten hinter den "Mythen" rund um die Studienreform offenzulegen, doch der Titel der Veranstaltung gab den Erwartungshorizont schon vor: "Bologna - The Surprising Success of an Educational Vision". Die eigentliche Überraschung steuerte dann allerdings Edelgard Bulmahn bei, die als SPD-Ministerin den Bologna-Prozess einst mitgestaltete. Wenn den Hochschulen der dreijährige Bachelor so viele Probleme bereite, sollten sie doch einen vierjährigen beschließen, sagte sie und bewies damit die Beliebigkeit eigener Grundpositionen.

Mit Verlaub, so kommt Bologna nicht weiter. Um die Zukunft der Reform zu gestalten, muss man endlich systematisch ihre Effekte erfassen und kritisch analysieren. Nur wenn man einen ehrlichen Abgleich zwischen den festgeschriebenen Zielen und den tatsächlich erreichten Ergebnissen vornimmt, wird man die Fehler im System korrigieren können. Damit die Reform nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis überzeugt.

Peter Wex ist promovierter Jurist, lehrte an der FU Berlin und befasst sich seit mehr als 20 Jahren als Bildungsforscher mit Lehr- und Organisationsstrukturen im Hochschulwesen.

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SZ vom 03.06.2019
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