Außergewöhnliche Bildungskarrieren:"Ich wollte raus aus der Schule"

Von der Hauptschule zur Promotion, mit Abitur in die Restaurantküche: Bildung verläuft nicht immer geradlinig. Menschen mit außergewöhnlichen Karrieren erzählen von ihrem Weg durchs deutsche Bildungssystem.

Von Karin Janker und Johanna Bruckner

Außergewöhnliche Bildungskarrieren: Freut sich, wenn sie Fehler in SMS von Freunden entdeckt: Schülerin Ena Bahtiri.

Freut sich, wenn sie Fehler in SMS von Freunden entdeckt: Schülerin Ena Bahtiri.

Ena Bahtiri, 17 Jahre, Schülerin an der Fachoberschule (FOS) für Sozialwesen in München:

Mein erster Kontakt mit dem deutschen Bildungssystem war für mich erniedrigend. Ich bin in Deutschland geboren, aber überwiegend in den USA aufgewachsen. Zehn Jahre habe ich dort mit meiner Familie gelebt, vor etwa drei Jahren sind wir hierher zurückkommen. Von der Schulberatung in München bekam ich die Empfehlung: Mittelschule (entspricht in Bayern der Hauptschule, Anm. d. Red.), siebte Klasse. Ich war geschockt! Das bedeutete für mich nicht nur, eine Klasse zu wiederholen. Ich hatte auch die üblichen Klischees gehört: Mit dem Hauptschulabschluss kannst du maximal Friseurin werden oder dich irgendwo hinter die Kasse stellen. Absolut nichts für mich! Was sollte ich, die Middle-School-Einser-Schülerin, dort?

Die ersten Wochen an der Mittelschule in Indersdorf habe ich mich vollkommen fehl am Platz gefühlt, mein Stolz war verletzt; außerdem konnte ich die Sprache nicht und habe kaum etwas verstanden. Erst nach und nach habe ich gemerkt, was für ein Glück ich hatte. An der Mittelschule habe ich einen speziellen Deutschkurs besucht, immer montags, fünfte und sechste Stunde. Wenn ich meinte, an der deutschen Sprache zu verzweifeln, waren meine Klassenlehrer für mich da. Sie haben mich motiviert, nicht aufzugeben. Heute ist mein Deutsch so gut, dass es mir auffällt, wenn Freunde in SMS Fehler machen. Dann freue ich mich heimlich.

Rückblickend würde ich sagen: Die Schulberaterin hat mir eine Chance genommen, aber sie hat mir auch eine gegeben. Wer weiß, wo ich heute stünde, wenn ich damals meinen Willen bekommen hätte und aufs Gymnasium gegangen wäre? So aber habe ich über den M-Zweig die Mittlere Reife gemacht und besuche heute die FOS für Sozialwesen in München. Meine nächsten Ziele: erst die Fachhochschulreife machen und dann das allgemeine Abitur.

"Abends konnte ich nur noch heulen"

Ich will nicht so tun, als sei der zweite Bildungsweg nicht hart. Im ersten Jahr an der FOS durchläuft man zwei Praktikumsstationen, dazwischen hat man Blockunterricht. Ich war erst an einer Grundschule in Dachau und bin jetzt in einer Heilpädagogischen Tagesstätte, in der schwerbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene betreut werden. Die Arbeit dort bringt mich psychisch an meine Grenzen, in den ersten Wochen konnte ich abends manchmal nur noch heulen. Dazu kommt der schulische Druck, in Mathe und Chemie ist das Tempo extrem hoch.

Wofür ich das alles mache? Ich will nach dem Abi Lehramt an der LMU studieren. Hauptfach Englisch, Nebenfach Deutsch. Das wird nicht einfach, schließlich ist Deutsch nicht meine Muttersprache. Aber es wäre ja kein richtiges Studium, wenn man sich keine Herausforderung sucht. Und irgendwann bin ich hoffentlich selbst Lehrerin. An einer Mittelschule.

Protokoll von Johanna Bruckner

Shahnam Afshar, 40 Jahre, Division Director eines Technologieberatungskonzerns in München:

Geboren wurde ich in Teheran, wo ich wie alle Schüler die Gesamtschule besuchte - bis ich zwölf Jahre alt war. Dann kam der Krieg und wir mussten den Iran verlassen, von einem Tag auf den anderen. So kam ich nach Deutschland, wo Bekannte meiner Familie uns aufnahmen und mich in einer Schule anmeldeten. Erst nach einem halben Jahr merkte ich, dass ich auf einer Hauptschule war und dort kein Abitur machen konnte. Damit waren meine früheren Berufswünsche in weite Ferne gerückt: Schon als Kind wollte ich entweder Arzt oder Ingenieur werden.

Aber zunächst hatte ich mit der deutschen Sprache zu kämpfen. Das erste Jahr auf der Hauptschule - die sechste Klasse - musste ich wiederholen. Dann machte ich die Prüfung zum qualifizierenden Hauptschulabschluss und anschließend die "Besondere zehnte Klasse der Realschule", wie es damals hieß. Die gab Quali-Absolventen die Möglichkeit, den Realschulabschluss zu erwerben.

Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium wechseln und hatte einen Termin mit dem Direktor. Doch das Gespräch mit dem Schulleiter endete abrupt, nachdem er ein vermeintliches Empfehlungsschreiben meines Klassenlehrers gelesen hatte. Der Lehrer traute es mir nicht zu, aufs Gymnasium zu gehen und hatte mich in dem Schreiben als nicht geeignet eingestuft.

Also ging ich einen anderen Weg, besuchte die Fachoberschule (FOS), machte das Fachabitur und ging an die Fachhochschule (FH) zum Studieren. Hier verwirklichte ich meinen ersten Traum: Ich wurde Diplom-Ingenieur für Feinwerk- und Mikrotechnik mit Schwerpunkt Medizintechnik.

"Natürlich fiel mir nicht alles einfach in den Schoß"

Dass ich nach dem Diplom 1998 direkt einen Job als Entwicklungsingenieur angenommen habe, hatte auch finanzielle Gründe: Ein paar Monate nach meinem Abschluss wurde ich Papa. Trotzdem war mein Wissensdurst noch nicht gestillt. 2004 habe ich nebenberuflich eine Promotion im Bereich Medizin an der Uni Heidelberg begonnen. Es war nicht leicht, nach der Arbeit an der Doktorarbeit zu sitzen, anstatt mit Familie und Freunden den Feierabend zu genießen, aber ich habe es durchgezogen und meine Promotion drei Jahre später mit "magna cum laude" abgeschlossen.

Die Motivation für diesen langen Weg haben mir vor allem meine Eltern vermittelt. Ich erkannte früh, dass Bildung die einzige Möglichkeit ist, sich Türen zu öffnen, wenn man in einem fremden Land neu anfangen muss. Das deutsche Schulsystem mag zwar seine Schwächen haben, aber ich glaube, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Protokoll von Karin Janker

"Was du gerne tust, das machst du gut"

Außergewöhnliche Bildungskarrieren: "Ich wollte raus aus der Schule": Flora Nieß promoviert heute in Kunstgeschichte.

"Ich wollte raus aus der Schule": Flora Nieß promoviert heute in Kunstgeschichte.

(Foto: privat)

Flora Nieß, 29 Jahre, Doktorandin der Kunstgeschichte:

Von meinen Eltern wurde mir nie vermittelt, dass das Abitur das oberste Ziel sein muss. Stattdessen wurde ich so erzogen, dass ich einen Beruf finden sollte, den ich wirklich gerne mache. "Was du gerne tust, das machst du gut", lautete die Überzeugung meiner Eltern. Aber die Schule wurde meinen Interessen nicht gerecht. Obwohl es ein musisches Gymnasium war, hatte ich das Gefühl, mit meiner Art zu fragen und zu lernen ausgebremst zu werden. Nach einer Mathestunde in der siebten Klasse bin ich dann aufgestanden, habe alle meine Bücher auf das Lehrerpult gelegt und bin nach Hause gegangen. Ich habe das Gymnasium abgebrochen und bin auf die Realschule gewechselt.

Dort war ich allerdings auch nicht glücklicher. Der Unterricht hat mich nicht angesprochen, nur die Kunstlehrerin, die neben den praktischen Übungen auch viel Kunstgeschichte unterrichtete, hatte meine volle Aufmerksamkeit. Sonst lag der Fokus auch hier viel zu sehr auf abfragbarem Wissen statt auf kreativem Denken. Irgendwann habe ich dann komplett verweigert, keine Hausaufgaben mehr gemacht. Ich hatte nicht einmal einen Schreibtisch zu Hause. Alles andere war wichtiger und die Schule hat es einfach nicht geschafft, mich abzuholen.

Nach der Mittleren Reife habe ich drei Jahre lang eine Ausbildung zur Holzbildhauerin gemacht. Ich wollte raus aus der Schule und hatte gleichzeitig die Hoffnung, in einer kunsthandwerklichen Ausbildung das zu finden, was ich in der Schule so vergeblich gesucht hatte: die Freude am Arbeiten und die Freiheit, mein Leben selbst zu gestalten.

Ich wollte etwas erleben. Also ging ich für ein freiwilliges soziales Jahr nach Bolivien. Dort, während meiner Arbeit mit Straßenkindern, wurde mir bewusst, welche Chancen in Bildung liegen, und ich erkannte den Wert des deutschen Bildungssystems. Noch in Bolivien habe ich mich an der Berufsoberschule (BOS) angemeldet, um mein Abitur zu machen.

"Plötzlich war ich hochmotiviert"

Auf der BOS, ich war damals 21 Jahre alt, war ich plötzlich hochmotiviert. Ich hatte mich selbst dazu entschieden, mich den Regeln des schulischen Lernens zu unterwerfen. Außerdem hatte ich eine tolle Deutschlehrerin, die mit uns ins Theater und zu Lesungen ging. Sie hat mein Suchen verstanden und mich gefordert und gefördert. Das Abitur war für mich dann keine Hürde mehr. Im Anschluss ging ich an die Uni, studierte Europastudien und machte anschließend einen Master in Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaften. Inzwischen promoviere ich in Kunstgeschichte.

Ich würde nicht sagen, dass ich unseren beiden Kindern einen Weg wie den meinen ersparen möchte, denn ich weiß auch, dass mich erst diese Erfahrungen dahin geführt haben, wo ich heute stehe.

Protokoll von Karin Janker

Leander Leins, 24 Jahre, zur Zeit als "Chef Gardemanger" im "Smögen" in Stuttgart:

Ich war auf einer Waldorfschule, da hätte ich auch mit der Mittleren Reife abgehen können. Aber für mich war immer klar, dass ich Abitur mache. Ich dachte: Das ist der höchste Schulabschluss, damit steht einem die Welt offen.

Nach dem Abi bin ich nach Erfurt gegangen und habe angefangen, Staatswissenschaften zu studieren. Der Mix aus Politik, Soziologie, Jura und ein bisschen VWL/BWL klang interessant, aber ich hatte schnell das Gefühl, dass es nicht das Richtige ist. Ich wusste nicht, wohin das Studium führen soll. Viele Studenten reizt diese Offenheit und Freiheit, aber mir fehlte der Ansporn und, ja, die Kontrolle. Ich will wissen, wann ich wo sein muss.

Also habe ich nach dem ersten Semester abgebrochen. Noch in Erfurt hatte ich mich bei verschiedenen Restaurants für Praktika beworben. Kochen - das war auf einmal so eine fixe Idee. Vielleicht, weil in meiner Familie viel Wert auf gutes Essen gelegt und gerne gegessen wird. Die Lokale, bei denen ich mich beworben habe, waren allesamt Sterne-Läden. Ich dachte: Wenn schon Koch, dann richtig. Meine Ausbildung habe ich auf Burg Staufeneck gemacht. Dort gibt es nicht nur ein Gourmetrestaurant, sondern auch ein Bistro und ein Hotel.

"Das hier ziehst du durch"

Was man über die Kochausbildung hört, stimmt. Es ist hart. Gleich in der ersten Woche habe ich mir so tief in den Finger geschnitten, dass ich krankgeschrieben war. Ans Aufhören habe ich trotzdem nicht einen Tag gedacht. Ich war in einem speziellen Ausbildungsgang für Abiturienten. Der größte Unterschied zur regulären Kochausbildung ist, dass man an der Berufsschule keine allgemeinbildenden Fächer wie Deutsch oder Mathe hat, sondern nur fachbezogenen Unterricht. Warenkunde, Rechnungswesen, solche Sachen.

Nach der Abschlussprüfung zum Koch bin ich auf Weltreise gegangen. Eine tolle Erfahrung, auch kulinarisch: Ich habe verschiedene Küchen kennengelernt, war in Sterne-Restaurants essen und habe auf Märkten lokale Spezialitäten probiert. Momentan arbeite ich in einem Restaurant in Stuttgart als Gardemanager, das heißt, ich bin für die kalte Küche zuständig, bereite vor allem die Vorspeisen zu.

In Zukunft möchte ich weiter lernen, verschiedene Positionen in der Küche ausprobieren - und in ein paar Jahren will ich mein eigenes Lokal eröffnen. Was es dort geben wird? Als Amuse-Gueule könnte ich mir eine Tournedos-Rossini-Variation vorstellen: Tartar vom Rinderfilet, dazu ein Gänseleberschaum und Trüffelvinaigrette. Auf den Teller bin ich heute noch stolz.

Protokoll von Johanna Bruckner

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