Süddeutsche Zeitung

Ausbildungsverlierer:Übergänge statt übergangen

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Obwohl es in Deutschland oft gut gelingt, junge Menschen in Arbeit zu bringen, bleiben jedes Jahr Hunderttausende auf der Strecke. Das ließe sich leicht ändern.

Von Ralf Steinbacher

Junge Leute haben in Deutschland vergleichsweise gute Chancen, einen Job zu finden - das zeigt der neue Bildungsvergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Für jeden gilt das aber längst nicht. Immer noch verlassen Jahr für Jahr nahezu 50 000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss; und fast eine Viertelmillion Jugendliche beginnen im sogenannten Übergangsbereich, häufig deshalb, weil sie keine Lehrstelle finden. Das zeigt der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Gleichzeitig haben jedoch viele Firmen Schwierigkeiten, Ausbildungsplätze zu besetzen, von Zehntausenden freien Stellen sprechen Industrie- und Handelskammer sowie das Handwerk. Das passt nicht so recht zusammen - und zeigt, dass das gute Zeugnis, das die OECD der Bundesrepublik vergangene Woche ausgestellt hat, durchaus Eselsohren hat.

Besonders die Schulabgänger ohne Abschluss oder "nur" mit einem Hauptschulabschluss schaffen es selten, nach der Schule als Azubi durchzustarten. Probleme haben auch Jugendliche mit Lernschwierigkeiten, mit sozialen Benachteiligungen oder mit Migrationshintergrund. Und immer öfter landen sogar Schüler mit Realschulabschluss erst einmal im Übergangsbereich, 66 000 waren es im Jahr 2014, wenn auch das Gros die Hauptschüler und Schulabbrecher stellen. Manche können sich im Übergangsbereich zwar sehr wohl weiterqualifizieren oder finden eine Stelle, andere aber hängen jahrelang in Warteschleifen fest und bleiben letztlich auf der Strecke. Mehr als 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Dass die Gesellschaft auch schwerer vermittelbaren Jugendlichen eine Perspektive bieten kann, ohne sie ins Übergangssystem zu verabschieden, beweisen beispielhafte Initiativen (Protokolle rechts). Besonders effizient sind diese, wenn Jugendliche sozusagen an die Hand genommen und persönlich betreut werden. Das erfordert Einsatz und Mittel, doch auch der Übergangsbereich, wo die Leute oft quasi verwahrt werden, kostet Geld. Wenn dann noch Akteure in lokalen Netzwerken zusammenarbeiten, sind Erfolgsgeschichten möglich. "Dreh- und Angelpunkt", sagt Andreas Pieper vom Bundesinstitut für Berufsbildung, "ist das Engagement von Schulleitern, Lehrern und Betrieben."

Wie im Projekt "Jobwärts" an der niedersächsischen Gesamtschule Schneverdingen. Da werden die Hauptschüler einmal pro Woche an der Berufsschule unterrichtet, trainieren Bewerbungen, suchen unter Anleitung Betriebe für Praktika oder einen Ausbildungsplatz. Ausgedacht hat sich das Schulleiter Mani Taghi-Khani. Seit 2012 habe die Schule um die 90 Prozent der Hauptschüler vermitteln können, die eine Lehrstelle suchten. Messbare Erfolge. Bei Jobwärts werden Azubis noch im ersten Lehrjahr betreut. Das ist sinnvoll: 2013 wurde laut Statistik jeder vierte Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst.

Sicht der Praktiker: Passend vermittelt

Jobwärts-Nachbetreuung für frühere Hauptschüler der Gesamtschule Schneverdingen in Niedersachsen. Lehrer wie Roger Wieneke begleiten Azubis im ersten Ausbildungsjahr: "Wir halten wöchentlich Kontakt zum Azubi, zum Betrieb, zur Berufsschule und zum Elternhaus. Wenn ein Schüler sagt: Mensch, in Mathe komm' ich gar nicht klar - dann wird er von uns schulisch nachbetreut. Wir sprechen auch regelmäßig mit den Betrieben, die kennen die Schüler ja gar nicht. Wenn ein Azubi immer zu spät kommt, liegt das vielleicht am Umfeld, früher wurde deswegen oft das Ausbildungsverhältnis gelöst. Wir haben einen Jugendlichen betreut, der aus einer hoch kriminellen Familie kommt. Aber wir fanden einen Betrieb mit einem Chef, der gesagt hat: ,Auch der braucht eine Chance.' So einem Jugendlichen muss man zeigen: Es gibt auch für dich eine Zukunftsperspektive. Ein Schüler mit Migrationshintergrund wurde Einzelhandelskaufmann in der Medienbranche und schreibt Bestzahlen als Verkäufer. Ohne Nachbetreuung hätte der mit seinem miesen Zeugnis die Ausbildung sicher abgebrochen. Wir können den Betrieben eben sagen: Von uns bekommt ihr einen Lehrling mit Garantie."

Sicht der Praktiker: Freundschaftlich betreut

Rock Your Life ist eine bundesweite gemeinnützige Bildungsinitiative. Schüler werden während ihrer letzten zwei Schuljahre von einem Studenten als Mentor begleitet. Lena Keicher ist Mentorin: "Das Programm richtet sich eher an Schüler, die mehr Hilfe brauchen, aber mitmachen dürfen alle. Es ist kostenlos. Die Schüler sollen ihre Potenziale entfalten, ihre Stärken und Schwächen kennenlernen, sich über ihre Zukunft klarer werden, eine Ausbildungsstelle finden oder eine weiterführende Schule besuchen können. Aber ein definiertes Ziel gibt es nicht. Man geht da auch mal einen Kaffee trinken oder ins Kino. Zuerst findet in der Klasse ein Speed-Dating statt. Mein Schüler war der letzte, mit dem ich geredet habe, er hat erzählt, dass er Fußball spielt, genau wie ich, und auch noch auf der gleichen Position. Wir waren uns gleich sympathisch. Er ist 14, man redet über Alltägliches, Mädels, Schule, Familie, im Grunde freundschaftlich. Wir haben auch schon einen Lebenslauf zusammen geschrieben und über Ausbildungsberufe geredet. Er ist gut in der Schule und möchte wohl weitermachen. Wir bieten auch Kanufahrten oder Klettertouren an und Bewerbungsworkshops, das ist alles freiwillig."

Sicht der Praktiker: Frühzeitig gefördert

Die Bildungsbegleiter des Kommunalen Jobcenters Hamm sind Ex-Schulsozialarbeiter, finanziert werden sie von der Stadt. Lydia Schillner ist Projektleiterin: "Wir fangen früh an und sind schon in den Grundschulen aktiv, um Bildungskarrieren mitzugestalten. Wir wollen Kinder und Jugendliche individuell und entsprechend ihrer Begabungen fördern. An 22 von 27 Grundschulen und an 20 Schulen mit Sekundarstufe haben wir Bildungsbegleiter. Wir finanzieren Nachhilfe und waren im letzten Schuljahr in 86 Prozent der Fälle erfolgreich, da geht es um Versetzungen oder darum, gute Abschlüsse zu generieren. Wichtig ist, den richtigen Nachhilfelehrer zu finden, es muss die Chemie stimmen. Wir fördern auch Talente. Ein Mädchen, das Medizin studieren wollte, haben wir unterstützt, damit sie den Numerus clausus schafft. Kernauftrag eines Teams ist es, Schüler in Ausbildung zu vermitteln. Notfalls können wir den Friseur, das Bewerbungsfoto und das Zugticket finanzieren und stellen die Bewerbungsunterlagen zusammen. Ein Förderschüler hatte mit unserer Hilfe eine Bäckerei gefunden, leider fuhr nur selten ein Bus in dieses Dorf - und Bäcker fangen halt sehr früh an. Da haben wir ihm ein Mofa finanziert."

Sicht der Praktiker: Bestens informiert

Das Berufsorientierungsprogramm (BOP) ist Teil der Initiative Bildungsketten, gefördert vom Bundesbildungsministerium, bisher wurden 840 000 Schüler erreicht. Sven Kaczkowski ist Leiter des Bildungszentrums der Handwerkskammer Frankfurt (Oder): "In der siebten Klasse erhalten die Schüler durch die Potenzialanalyse erst einmal eine allgemeine Einschätzung. In der achten Klasse finden dann bei uns zwei Werkstattwochen statt, wir haben pro Jahr 600 bis 700 Schüler aus 14 Schulen bei uns. In der ersten Woche lernen sie jeden Tag ein anderes Berufsfeld kennen, in der zweiten Woche fokussieren sie sich dann auf ein Berufsfeld, da werden dann schon kleine Dinge hergestellt. Im Idealfall weiß der Schüler dann, was er in der 9. Klasse im Praktikum machen will. Es geht darum, dass die Lehrlinge später im Beruf bleiben und sagen: Ja, das ist meins. Aber es ist auch ein Ergebnis, wenn ein Schüler nach der zweiten Werkstattwoche sagt: Also das will ich auf keinen Fall machen. Wichtig ist aber, die Schüler nicht nur fachlich fit zu machen, sondern sie in den ersten Ausbildungsmonaten auch zu begleiten und den Betrieben zu signalisieren: Wir sind da, wenn es Probleme gibt." Fotos: privat/oh (4)

Die Frage bleibt: Warum wird eine solche Betreuung nicht Regelfall für all diejenigen, bei denen es ohne Hilfe wohl nicht klappt? Der Übergang von der Schule in die Ausbildung müsse verbessert werden, sagt auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka. Bund und Länder sind gerade dabei, ein Fördersystem zur Berufsorientierung und zum Übergang in Ausbildung bis zum Abschluss zu schaffen. Für Berufseinstiegsbegleiter, die Schützlinge eben persönlich betreuen, stehen bis 2019 eine Milliarde Euro bereit.

Erfolgsgeschichten wie in Schneverdingen könnten Prinzip werden - sie müssen es werden.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2015
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