Analphabetismus:Wie Peggy Gaedecke die richtigen Worte fand

Forscher wollen Analphabeten helfen

Viele Analphabeten können ihre Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben vor ihrem Umfeld verstecken. Doch ihr Alltag ist voller Hürden.

(Foto: dpa)

7,5 Millionen Deutsche können kaum lesen und schreiben. Bei den meisten von ihnen ahnt nicht einmal das nächste Umfeld etwas davon. So war es auch bei Peggy Gaedecke. Doch dann beschloss sie wieder zur Schule zu gehen - ihrer kleinen Tochter zuliebe. Die Geschichte eines Tabubruchs.

Von Oliver Hollenstein

Um zu verstehen, wie Peggy Gaedecke die Welt sieht, hilft ein kleines Experiment. Es ist in einer Zeitung so unerhört, dass man es kurz erklären muss: Im nächsten Satz wurden alle Wörter klein geschrieben, die Leerzeichen verschoben und die Satzzeichen weggelassen: Manst elles ichal sovor manha besich ine in erchin esisch ensta dtv erlau fensch ild erwei senden wegab erdara ufs ind nurchi nesis cheschr iftze ichen.

Die meisten Menschen lesen den vorigen Satz laut, langsam, Silbe für Silbe. Und dann noch einmal, um zu verstehen, was sie da überhaupt gelesen haben. Peggy Gaedecke liest jeden Text so. Sie ist eine von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland. Jeder siebte Erwachsene kann nicht richtig lesen und schreiben, haben Wissenschaftler der Universität Hamburg herausgefunden. Das bedeutet: Die meisten von uns kennen jemanden, der Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat. Die meisten von uns werden davon aber nie etwas bemerkt haben.

Orientierung ohne Buchstaben

Berlin-Neukölln, Umsteigen am Hermannsplatz, der zweite Stopp, Haltestelle Karl-Marx-Straße, die Treppe hoch, links ein Friseur, gelber Schriftzug, rechts ein Kaufhaus, roter Schriftzug, dazwischen die Straße, dann auf der linken Seite, so hatte es die Chefin des Vereins am Telefon erklärt. Orientierung ohne Buchstaben.

"Willkommen bei Lesen und Schreiben", sagt die junge Frau, die nun aus dem Büro kommt, hübsches Gesicht, kinnlange schwarze Haare. "Ich würde sagen, wir gehen in den Besprechungsraum." Seit 30 Jahren kümmert sich der Verein Lesen und Schreiben in Berlin darum, Analphabeten zu unterrichten, sagt die Frau. Sie erklärt die Finanzierung des Vereins, bemängelt die fehlende politische Wahrnehmung, schließt die Tür und setzt sich an den Tisch. Wollte nicht noch eine Schülerin von Ihnen dazukommen? Die Frau stockt kurz, fängt dann laut an zu lachen. "Das bin ich doch. Ich bin Peggy Gaedecke."

Nicht lesen zu können ist ab der dritten Klasse nicht mehr akzeptabel

Peggy Gaedecke, heute 30, war neun Jahre alt, als ihrer Lehrerin auffiel, dass das ruhige Mädchen mit den langen Haaren in der letzten Reihe nicht richtig lesen und schreiben konnte. Ostberlin, 1992. Die Stadt war im Nachwende-Schock, die alten DDR-Lehrer von neuen Lehrplänen verunsichert, die Mutter musste sich um sieben Kinder kümmern. "In der zweiten Klasse hatte Peggy Mittelohrentzündung. Die hat monatelang im Krankenhaus gelegen", sagt Ingrid Gaedecke heute. "Ich habe dann später gemerkt, dass meine Tochter das d und das b nicht auseinanderhalten kann. Ich hab' versucht zu helfen, aber viel kann man da ja auch nicht machen."

Nicht lesen zu können ist spätestens ab der dritten Klasse nicht mehr akzeptabel. Die kleine Peggy versuchte, ihre Schwäche zu verbergen. Die Hefte führte sie extra sauber. Texte waren für sie wie Zeichnungen, die sie Strich für Strich abmalte. Musste sie etwas vorlesen, lernte sie es vorher auswendig. "Sie war unfassbar fleißig", sagt die Mutter. Ein Jahr nach der Krankheit bemerkte ihre Lehrerin trotzdem etwas. Sie wollte helfen. Ihre Hilfe hieß: Sonderlehrplan für Schwerbehinderte.

Schwerbehindert, dumm, wertlos, sind die Worte, die sie seither durch ihr Leben begleiten, sagt Gaedecke. In einer Welt, die aus Buchstaben besteht, deren Kultur auf Schrift basiert, in einer Gesellschaft, die sich via Facebook, E-Mail und SMS inzwischen selbstverständlich schriftlich austauscht, ist man ausgeschlossen, wenn man nicht lesen und schreiben kann.

Der Kollateralschaden der Wissensgesellschaft

Dabei geht es gar nicht darum, dass die Betroffenen überhaupt nicht lesen oder schreiben können. Funktionale Analphabeten erkennen Buchstaben, manchmal einzelne Worte, aber sie verstehen keine zusammenhängenden Texte. Sie sind der Kollateralschaden der Wissensgesellschaft: Vor 50 Jahren hätten ihre Kenntnisse gereicht, um die meisten Jobs zu machen. Heute sind sie zu Hilfsarbeiten verdammt.

Zurück beim Verein Lesen und Schreiben in Neukölln. Einige der Lerner, wie die Schüler hier genannt werden, wollen eine Selbsthilfegruppe gründen. Neben Peggy Gaedecke sind Marion, Peter und Petra gekommen, außerdem Ulrike, ihre Lehrerin. "Jemand muss ein Protokoll schreiben, damit die anderen wissen, was wir besprochen haben", sagt Marion. Schweigen. "Ach komm, Peggy", sagt Ulrike. "Du bist jetzt schon ein Jahr hier, du kannst das super." Gaedecke zerknautscht das Gesicht. "Ok, ich mach's, aber nur Stichworte." Die Lerner haben ihre Lehrerin eingeladen, damit sie von einer Selbsthilfegruppe von Analphabeten in Oldenburg berichtet. Gaedecke setzt den Kugelschreiber auf das Blatt, malt große Druckbuchstaben: OLNBUNG: ULRIKE ERZÄHT WAS DARÜBER.

"Ihr müsst euch klar werden, was ihr wollt mit eurer Gruppe", sagt Ulrike. "Wir wollen uns gegenseitig helfen", antwortet Marion. "Beim Hartz-IV-Antrag zum Beispiel", fällt ihr Peter ins Wort. "Habt ihr den Neuen schon gesehen?" Petra nickt heftig: "Ui, das ist ein tolles Ding. Früher durfte man überall Kreuzchen machen, jetzt muss man alles schriftlich eintragen." "Zum Kotzen", sagt Peter.

Wer permanent improvisiert, lernt Erstaunliches

Für Analphabeten ist die Welt voller Hürden: Formulare, Speisekarten, Fahrkartenterminals, Geldautomaten, Straßenschilder, Gebrauchsanweisungen. Ebenso viele Tricks gibt es, sich durchzumogeln, sagt Gaedecke: Formulare vom Amt versucht sie, mit nach Hause zu nehmen. Dort hat sie ein Wörterbuch und einen Ordner mit Kopien von allen möglichen Formularen. Beim Arzt lässt sie sich Flyer und Visitenkarten geben, um zu wissen, wie Gynäkologin oder Zahnwurzelbehandlung geschrieben wird. Im Restaurant bestellt sie das, was es überall gibt: Wasser, Cola, Kaffee.

Wer permanent improvisieren muss, lernt erstaunliche Dinge. "Ich kann mir sehr lange Texte auswendig merken", sagt Gaedecke. Und Lehrerin Ulrike sagt: "Analphabetismus hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Die meisten Betroffenen wurden einfach nur nie gefördert."

So war es auch bei Gaedecke. Nach der Diagnose ihrer Grundschullehrerin wechselte sie auf eine Sonderschule, lernte ein bisschen Mathe, ein bisschen Englisch, ein bisschen Deutsch, aber leider nicht schreiben, sagt sie. Den Hauptschulabschluss machte sie, indem sie auswendig lernte, Rechtschreibung wurde bei ihr nicht bewertet. "Ich galt ja als behindert." Erst in der Ausbildung zur Hotelfachfrau flog sie auf: Die Chefin merkte, dass sie ihr Berichtsbuch nicht geführt hatte. Sie verlor ihren Job, wurde schwanger, mit 19 Jahren bekam sie Tochter Lea.

Die Fernsehspots haben nichts geändert - aber Lea

Etwa 80 Prozent der funktionalen Analphabeten haben einen Schulabschluss. Die meisten verstecken ihre Schwäche so gut, dass nicht einmal die engsten Freunde etwas merken. Selbst für Menschen, die eigentlich helfen sollen, ist es daher schwer, Analphabeten zu erkennen. Der Verein Lesen und Schreiben bietet deswegen seit Sommer Sensibilisierungskurse für Sozialarbeiter und Behörden an.

Gaedecke hilft dabei - als betroffene Expertin. Sie beugt sich über einen Flyer, den zwei Teilnehmer mitgebracht haben. "Qualifizierung für Beschäftigte", steht oben, darunter Text, unten ein Bild einer Menschengruppe, alle lachen und strecken ihre Daumen nach oben. "Ich glaube, es geht um eine große, lustige Familie", sagt Gaedecke. Dann versucht sie den Flyer zu lesen, stoppt, deutet auf das dritte Wort: "Das kenne ich nicht." Das Wort heißt: Integrationschancen.

In der Arbeitswelt sind Analphabeten nicht so selten

57 Prozent der Analphabeten haben einen Job. Die meisten sind aber Un- und Angelernte, verrichten einfache, körperliche Tätigkeiten, heißt es in einer Studie der Universität Hamburg. Peggy Gaedecke hat ihr Hartz IV in den vergangenen Jahren mit Putzen aufgebessert. Sie hat bei Familien sauber gemacht, eine Zeit lang in einem Krankenhaus, aber das war schwierig, weil man Protokolle ausfüllen muss.

Auch in der Arbeitswelt sind Analphabeten nicht so selten, wie man glauben könnte. Jeder achte Erwerbstätige in Deutschland ist funktionaler Analphabet, schreiben die Hamburger Wissenschaftler. Trotzdem investieren immer weniger Unternehmen in Weiterbildung. Und auch die Politik habe in den vergangenen Jahren die Mittel gekürzt - obwohl sie 2011 eine 20 Millionen Euro teure Kampagne zur Alphabetisierung startete: "Schreib dich nicht ab - Lern lesen und schreiben."

Gaedecke hat die Fernsehspots damals gesehen. Geändert hat es nichts. Ihr Leben änderte sich erst, als etwas passierte, was typisch ist: Sie bemerkte, dass ihrer Tochter Lea lesen und schreiben schwer fiel. Soziale Vererbung, nennen die Wissenschaftler das. "Ich habe mich total hilflos gefühlt", sagt Gaedecke. "Ich konnte Lea ja nicht helfen. Ich habe ihre Fehler einfach nicht erkannt." Am Anfang half Oma Ingrid, sie lösten die Hausaufgaben der Viertklässlerin zu dritt. Via Skype. Mit Wörterbuch. Das war vor einem Jahr. Damals traf sie eine Entscheidung: Sie schickte Lea zur Nachhilfe. Und begann einen Schreibkurs.

"Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich ein dummer Mensch bin"

Berlin Mitte. Peggy Gaedecke hat alle Menschen eingeladen, die ihr wichtig sind: ihre Tochter Lea, ihren Freund Enrico, ihre Mutter Ingrid, ihren Bruder Maik, ihre Schwiegermutter und Marion aus der Selbsthilfegruppe.

Gaedecke sitzt auf einer Bühne, neben ihr an einem Tisch der Schauspieler Heio von Stetten. "Ich bin zwar kein anderer Mensch geworden, was ich auch nicht wollte", liest er vor. "Aber ich habe mehr Selbstbewusstsein bekommen, bin mutiger in vielen Lebenssituationen geworden." Gaedecke schaut auf den Fußboden, streicht sich mit der Hand über den Oberschenkel. "Ich habe auch nicht mehr das Gefühl, dass ich ein dummer Mensch bin", liest von Stetten. "Wenn man möchte und den Ehrgeiz hat, weiter im Leben vorwärts zu kommen und was zu erreichen, schafft man viel mehr."

Applaus. Gaedecke schaut schüchtern auf Enrico, der in der ersten Reihe sitzt, schmunzelt und kräftig in seine großen LKW-Fahrer-Hände klatscht. Gaedecke hat den Text geschrieben, den Heio von Stetten vorgelesen hat. Er heißt "Was kann ich jetzt?" und erzählt davon, wie sich ihr Leben im vergangenen Jahr verändert hat. Eine Jury fand die Geschichte so bewegend, dass sie den Text für das Finale beim Schreibwettbewerb für funktionale Analphabeten nominierte. Auf Facebook erhielt Gaedecke dann so viele Stimmen wie kein anderer.

Die Autofahrt, die für Peggy Gaedecke alles änderte

Zur Preisverleihung sind 50 Gäste gekommen, die Bildungsministerin hat eine Mitarbeiterin geschickt. "Das ist schon viel Aufmerksamkeit", sagt Peter Hubertus. Er ist seit fast 20 Jahren Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung. "Wir sind ja froh, dass wir inzwischen wenigstens eine kleine Lobby haben." Von den 7,5 Millionen Betroffenen besuchen nur 25 000 derzeit Lernkurse, sagt er. "Die meisten leben unerkannt mitten unter uns."

Für Gaedecke hat es einen Moment gegeben, der ihr die Angst genommen hat, sagt sie. Lange Zeit wussten nur ihre Mutter und ihre beste Freundin Bescheid. Dann kam diese Autofahrt, da war sie gerade seit zwei Monaten mit Enrico zusammen. Er holte sie vom Kino ab. "Ich habe geweint, er hat gefragt, was los ist." Sie erzählte ihm von dem Film, es ging um eine Analphabetin. Schließlich sagte sie: "Ich habe das auch." Er stutzte. "Was, du willst mich doch veräppeln?" Und dann erzählte sie ihm, warum sie behauptet hatte, lieber zu telefonieren, als SMS zu schreiben. Warum sie vor ihm nie am Computer schreiben wollte. "Am Ende hat er gesagt: Wir kriegen das hin", sagt Gaedecke. Sie schaut auf den Boden, streicht sich über den Arm, sagt leise: "Es war einfach in Ordnung."

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