Abitur in Südkorea:16 Stunden am Tag lernen

Südkorea hat ein außergewöhnlich forderndes Bildungsystem. Im letzten Schuljahr lernen die jungen Koreaner in der Regel bis tief in die Nacht hinein - auch am Wochenende. Im Pisa-Ranking liegt das Land dafür regelmäßig in der Spitzengruppe. Doch die koreanischen Schüler sind mit Abstand die unglücklichsten.

Bastian Brinkmann

Am Abend vorher geht Hwan Cheol Oh relativ früh ins Bett, schon um Mitternacht. Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um sechs Uhr, der 18-Jährige geht duschen. Dann gibt es ein leichtes Frühstück, Reis, gekochten Schinken, eine Seetang-Suppe. Die regt die Gehirnzellen an, sagt man in Südkorea. Doch Hwan Cheol bekommt kaum etwas runter. Sein Vater fährt ihn in die Schule, kurz vor acht steigt er aus dem Wagen. Gleich beginnt an diesem sonnigen Novembertag die nationale Abiturprüfung. Wie Hwan Cheol schreiben fast 700 000 Koreaner die Arbeiten ihres Lebens. Damit sie den Schülern nicht die Straße versperren, dürfen viele Berufstätige an diesem Tag eine Stunde später ins Büro kommen. Wenn ein Schüler in Eile ist, winkt er eine Polizeistreife heran. Mit Blaulicht und Martinshorn geht es dann auf der Überholspur zur Prüfung.

Abitur in Südkorea: Nationaler Prüfungstag in Südkorea. Mit dem Ergebnis bewerben sich die Schüler an den Universitäten.

Nationaler Prüfungstag in Südkorea. Mit dem Ergebnis bewerben sich die Schüler an den Universitäten.

(Foto: AFP)

Vor dem Schultor warten jüngere Mitschüler, sie klatschen und halten Plakate hoch, die viel Erfolg wünschen. Es gibt Kaffee und Tee für die Prüflinge, und ein Stück Schokolade. Heute bin ich wer, denkt Hwan Cheol, als er die Menge sieht. Er hat jetzt ein gutes Gefühl.

Südkorea hat ein außergewöhnlich forderndes Bildungssystem. Im letzten Schuljahr lernen die jungen Koreaner in der Regel 16 Stunden am Tag, auch Hwan Cheol. Der Unterricht begann für ihn um kurz nach acht Uhr, um vier Uhr nachmittags war Schluss - mit dem offiziellen Teil. Hwan Cheol ging dann in einen Lesesaal, in dem seine Eltern einen Platz für ihn gemietet hatten. Dort blieb er bis etwa sieben Uhr mit seinen Büchern, um dann für das Abendessen nach Hause zu gehen. Abendessen, das hieß auch: eine Stunde Ruhe, keine Bücher, ein bisschen fernsehen. Anschließend ging er zurück in den Lesesaal, bis zwei Uhr nachts. Zwölf Monate lang, auch am Wochenende. Im Sommer war er mit Freunden zwei Tage am Meer, das war's.

Mitschüler von Hwan Cheol haben "Hagwons" besucht, das sind private Institute, in denen Nachhilfelehrer den Schülern den Stoff wieder und wieder vorkauen. Das Schulsystem ist ganz auf den finalen Prüfungstag ausgerichtet. Mit dem Ergebnis bewerben sich die Schüler an den Universitäten. Wer an einer der besten genommen werden möchte, muss ein nahezu perfektes Abitur ablegen, die Konkurrenz ist hart. Die OECD hat vor ein paar Jahren 15-Jährige gefragt, wer erwartet, dass er zur Uni gehen werde. Satte 95 Prozent der jungen Koreaner sagten ja. Im OECD-Schnitt war es gerade mal jeder zweite.

Der Bildungseifer ist verbunden mit dem wirtschaftlichen Boom. Die Großeltern haben noch unter dem Koreakrieg gelitten; die Eltern der jetzigen Studenten haben noch die Zeit erlebt, als Nordkorea reicher war als der Süden. Mit einem Studium hat zumeist der Aufstieg einer Familie begonnen - den die Kinder jetzt bitte schön fortsetzen sollen.

Beten für ein gutes Ergebnis

Am nationalen Prüfungstag sind die buddhistischen Tempel voll: Eltern beten, dass ihre Kinder gut abschneiden. In die Bildung investieren die Eltern oft einen Großteil des Haushaltseinkommens. Die Studiengebühren für gute Unis liegen zwischen 3000 und 6000 Euro im Semester - in einem Land, in dem der Mindestlohn unter drei Euro liegt.

Hwan Cheol weiß noch nicht, auf welche Hochschule er gehen will. Darüber nachzudenken, fehlte ihm schlicht die Zeit. Jetzt muss er die Prüfung hinter sich bringen. Sie besteht im wesentlichen aus Multiple-Choice-Fragen. Eine Kommission hat sie ausgetüftelt, ihre Mitglieder schotten sich wochenlang in einem Hotel ab, damit nichts nach draußen dringt. Handys sind verboten.

Zunächst stehen für Hwan Cheol Koreanisch und Mathe auf dem Programm. Sein Gefühl sagt: Es läuft nicht so gut. In der Pause isst er nur eine Kleinigkeit. Er plaudert ein wenig mit Freunden, dann nimmt er sich die Englisch-Vokabeln vor. Damit geht es nach der Pause weiter. Zwischen 13.10 Uhr und 13.30 Uhr startet dann kein Flugzeug, denn jetzt müssen die angehenden Abiturienten einer Englisch-CD zuhören. Die Motorengeräusche der Turbinen könnten die Schüler stören. Der Englisch-Teil kommt Hwan Cheol leicht vor - das ist schlecht, findet er. Denn die Noten richten sich auch danach, wie gut die anderen sind.

Zuletzt muss sich Hwan Cheol den Geisteswissenschaften stellen. Die Schüler konnten wählen, ob sie Fragen zur Geographie, Kultur oder zu ähnlichen Fächern beantworten wollen. Für Hwan Cheol ist um kurz vor vier Feierabend. Wer anders als er noch eine zweite Fremdsprache gelernt hat, muss jetzt noch zu einer weiteren Prüfung antreten.

Prügelstrafe an den Schulen

Im Pisa-Ranking liegt Südkorea regelmäßig in der Spitzengruppe. Doch die OECD-Forscher stellten auch fest, dass die koreanischen Schüler die unglücklichsten sind - mit Abstand. Im März erregte ein Suizid Aufsehen: An einer bekannten Uni sprang ein Schüler in den Tod, bereits der vierte in kurzer Folge an der Hochschule. In Südkorea gibt es an den Schulen sogar noch die Prügelstrafe. Im kommenden Jahr will die Region Seoul sie nun aber verbieten.

Der Kanadier John Michael McGuire unterrichtet schon seit Jahren Studenten in Korea. Dem Philosophie-Professor fällt auf: Das koreanische Bildungssystem hemmt kritisches und kreatives Denken. Das liege nicht nur am Multiple-Choice-Abi, das stures Auswendiglernen fördert, sondern vor allem an kulturellen Werten, wie dem Wunsch, einer harmonischen Gruppe anzugehören, sagt McGuire. Außerdem beobachtet er eine starke Hierarchie unter den Studenten: Die Älteren stehen über den Jüngeren, so lehrt es der Konfuzianismus.

Als ein Erstsemester in einem seiner Kurse einmal aufmüpfig wurde, versuchte McGuire, ihn mit Argumenten zu überzeugen. Doch der Student zeterte weiter - bis sich ein Student im vierten Semester zum Störenfried umdrehte und "Schnauze" knurrte. Sofort war Ruhe. In der Arbeitswelt gilt ebenfalls: Vorgesetzten widerspricht man nicht. Ein Absolvent, der bei McGuire den Kurs "Kritisches Denken" belegt hatte, hat später seinen Job verloren.

Nach dem Uni-Abschluss beginnt das nächste Wettrennen, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die guten Jobs sind begehrt. Restaurants suchen dagegen händeringend junge Menschen, die sich zum Koch ausbilden lassen wollen.

Die Politik würde die Lage gerne entspannen und den Jugendlichen mehr Ruhe gönnen. Die Nachhilfe-Institute, die Hagwons, dürfen seit einiger Zeit nur noch bis 22 Uhr unterrichten. Doch regelmäßig erwischt das Ordnungsamt Schüler, die auch später noch in den Klassenräumen sitzen. Und als der Präsident im Sommer vorschlug, dass die Schulen künftig auf den oft üblichen Samstagsunterricht verzichten sollen, frohlockten von Journalisten befragte Mütter: mehr Zeit für Nachhilfe!

Die Unis werden angehalten, weniger auf das nationale Abitur zu setzen. Aber zusätzliche Zulassungsprüfungen in den Hochschulen haben das Arbeitspensum für die Schüler eher noch erhöht. Auch Hwan Cheol bereitet sich im Moment auf ein Bewerbungsgespräch für eine Uni vor, auch wenn er nicht sehr enthusiastisch davon erzählt. "Man bewirbt sich halt, weil alle anderen sich auch bewerben." Nach dem Abi auszuspannen und die Welt kennenzulernen, ist kein verbreitetes Konzept. Hwan Cheol: "Dann falle ich doch zurück. Das hole ich zeitlich nie mehr auf."

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