Abitur:Wenn fast jeder Abitur macht, wird anderswo selektiert

Welche Schule ist die beste Schueler laufen in einer Schule an einer Wand mit den Umrissen von Mens

Früher bildeten Abiturienten die Elite. Heute macht die Häfte eines Jahrgangs Abitur. Selektiert wird in Eingangstests an den Hochschulen - und anhand des Elternhauses.

(Foto: Thomas Trutschel/imago/photothek)

Eltern und Schüler empören sich, wenn das Gymnasium strenger wird und das Mathe-Abi schwierig ist. Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Schulen sind zu hoch und zu gering zugleich.

Kommentar von Johan Schloemann

Das Gymnasium ist eine ehemalige Eliteneinrichtung, die in Deutschland seit einigen Jahren für die Hälfte eines Jahrgangs oder sogar mehr geöffnet wird. Man muss nicht lange Stochastik gebüffelt haben, um sich auszurechnen, dass dies wahrscheinlich zu einer gewissen Spannung führt: zwischen dem Alltag des Unterrichts über die Jahre und der großen Prüfung am Ende.

Diese Spannung hat es immer schon gegeben. Aber sie wird durch die weniger restriktive Zulassung zum Gymnasium viel stärker. Das zeigt sich jetzt an dem Protest gegen eine textlastige und möglicherweise überfrachtete Aufgabenstellung im diesjährigen Mathe-Abitur, mit dessen Korrektur die zuständigen Lehrerinnen und Lehrer dieses Wochenende verbringen, während andere Leute zum Beispiel Zeitung lesen.

Wenn das Gymnasium zur weiterführenden Schule der Mehrheit wird, dann gibt es zwar zugleich mehr Abbrecher und Durchfaller, aber es wird auch leichter gemacht, gute Noten zu bekommen, weil die Anforderungen sinken. Dies sieht man schon daran, wie von der fünften Klasse an korrigiert wird: Direktoren und Ministerien drängen darauf, dass die "Eins" leichter und die "Sechs" schwerer zu vergeben ist, auch wo dies den Leistungen nicht entspricht.

Mit seiner Öffnung lässt das Gymnasium viel mehr gesellschaftliche Realität herein als früher. Es repräsentiert stärker die Einwanderungsgesellschaft, der Unterricht muss auf größere Unterschiede der Erziehung, der Sprachfähigkeit und der sozialen Herkunft reagieren. Das ist zwar eine harte, mal lohnende, mal frustrierende Arbeit, und die Lehrkräfte bekommen dazu immer noch zu wenig Unterstützung; aber auf diese Weise übt das Gymnasium heute ohne Zweifel eine neue, wichtige integrative Wirkung aus.

Das ganze Land teilt sich sozusagen in zwei Schulklassen

Allerdings nur für die eine Hälfte der Gesellschaft, die es aufs Gymnasium schafft. Denn wenn immer mehr junge Leute innerhalb dieses Systems das Abitur machen - oft unter reger Anteilnahme ihrer Eltern -, dann wird natürlich die Abgrenzung nach außen schärfer. Wenn das ganze Land sich sozusagen in zwei Schulklassen teilt, dann dringt immer mehr Karriereorientierung in die eine Klasse ein, die angesehener ist als die andere und mehr Chancen verspricht.

Dann denken Eltern und ihre Kinder auf dem Gymnasium immer früher schon an spätere Berufswege und ans Geldverdienen, und nicht so sehr an die Voraussetzungen des gelingenden Lebens, das sie da erzwingen wollen: Neugier, Entwicklung der Persönlichkeit, Allgemeinbildung, demokratisches Bewusstsein, kritisches Denken und, ja: Spaß am Lernen. Die Schule übt mit der Schulpflicht einen Zwang aus, mit dem sie eigentlich auch einen Raum der Freiheit schaffen soll, bevor der Ernst des selbständigen Lebens beginnt - unabhängig von den ökonomischen Interessen der Erwachsenen. Oder ist das schon viel zu altmodisch gedacht?

Das Gymnasium kann nicht mehr strenger werden

Gewiss, eine solche Bildung - ein Begriff, den man sehr vorsichtig verwenden sollte, weil er neben messbaren Leistungen auch einen zwar von der Gesellschaft mitbestimmten, aber individuellen, nie abgeschlossenen Prozess bezeichnet - entsteht nicht ohne ebenfalls altmodische Dinge wie Fleiß, geistige Anstrengung und Beharrlichkeit. Das sollte die Schule den Familien fairerweise früher vermitteln als kurz vor dem Zentralabitur. Doch derzeit scheint die Tendenz eher in Richtung kurzfristiger Fleiß ohne Sinn zu gehen. Ein föderalchaotisches Halbzentralabitur tut da sein Übriges, das in der jüngsten Form weder bundesweit einheitlich noch klar länderspezifisch ist.

In dieser Atmosphäre nun gedeiht die gereizte Erwartung, die Schule dürfe vor allem keine Chancen verbauen. Deshalb ist auch so schwer zu unterscheiden, worauf der durchaus verständliche Zorn über ein schweres Mathe-Abitur eigentlich abzielt: Teils drückt er offenbar Enttäuschung der Kundschaft über den kostenlosen staatlichen Dienstleister aus, der doch für die möglichst mühelose Verteilung von Abschlusszertifikaten zuständig ist; teils aber auch nur die ganz normale, alte Angst, am Prüfungstag einfach Pech zu haben oder gehabt zu haben.

Im konkreten Fall wird sich eine Lösung finden, die Bewertung der Klausuren wird den lauten Protest sicher zum Teil berücksichtigen. Die Crux des gegenwärtigen Gymnasiums aber bleibt: Es kann unter den jetzigen Bedingungen eigentlich nicht wieder "strenger" werden, obwohl das beim Erlernen von Fremdsprachen und historischen Zusammenhängen, von Argumentierfähigkeit und naturwissenschaftlichen Grundlagen, von Kunstgeschichte oder auch Programmieren vielleicht sinnvoll wäre - weil dies politisch und ökonomisch nicht gewollt ist und weil die Eltern sonst auf die Barrikaden gehen. Passend dazu steht ja schon die Forderung im Raum, dass auch in Bayern wie anderswo nur noch die Eltern bestimmen sollten, ob ein Kind aufs Gymnasium gehört.

Die Förderung durch das Elternhaus wird noch wichtiger

Wenn aber der Zugang zu Gymnasium und Abitur weiter erleichtert wird, wenn nicht viel früher massiv in die Sprachförderung benachteiligter Kinder investiert wird, wenn am Ende fast alle das Abitur kriegen, so wie in Frankreich das Baccalauréat - dann findet die Selektion an anderer Stelle statt: Dann wird die Förderung durchs Elternhaus noch wichtiger, dann weichen Wohlhabende auf Privatschulen aus, dann entscheiden Eingangsprüfungen und Vorstellungsgespräche an den Universitäten über den Studienzugang. Während Pflegeheime händeringend nach Fachkräften suchen. Diese Egalisierung könnte also nach hinten losgehen, und zwar unabhängig davon, ob der Vokabeltest in ein Handy getippt oder auf einen Zettel geschrieben wird.

Jeder Schülerin und jedem Schüler ist fürs diesjährige Abitur viel Glück zu wünschen. Aber aufs Ganze gesehen, sind die Erwartungen der Gesellschaft an die Schule zugleich überzogen und zu schwach.

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