Abitur:"Je unsicherer die Aussichten, desto intensiver wird gefeiert"

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Ein Abi-Streich auf den Treppen des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums in Wertheim am Main. (Foto: Johannes Krieg via Wiki Commons (CC-BY-SA-2.5))

Der Abi-Streich legt die Schule lahm, die zugehörige Feier kostet so viel wie ein Kleinwagen: Volkskundlerin Gabriele Dafft erklärt, warum der Schulabschluss zum Event wird.

Interview von Bernd Kramer

Die Klausuren sind geschrieben, die mündlichen Prüfungen abgenommen und die viel diskutierten Mathenoten endgültig besiegelt. Deutschlands Abiturienten können in diesen Tagen und Wochen feiern - und tun das auf kreative und inzwischen oft auch teure Weise: Der höchste allgemeinbildende Schulabschluss wird mehr und mehr als Event zelebriert. Was sagt das über das Abitur und die Abiturienten aus? Ein Gespräch mit der Volkskundlerin Gabriele Dafft über die Rituale dahinter - und ihren Wandel.

SZ: Frau Dafft, Sie erforschen die Bräuche von Abiturientinnen und Abiturienten in Deutschland. Wie war Ihr eigener Abi-Ball?

Gabriele Dafft: Ich habe 1989 das Abitur gemacht und in meinem Jahrgang gab es tatsächlich keinen Abschlussball. Erst die Stufe danach fing damit an. In den 80ern war, zumindest bei uns, auch noch gar nicht so klar, in welcher Form man sich das Zeugnis abholt: Zieht man sich chic an oder kommt man einfach in Freizeitkleidung wie zu jedem anderen Schultag davor auch?

So wenig Fest und Pomp rund um das Reifezeugnis wäre heute schwer vorstellbar. In NRW mahnte erst kürzlich die Schulministerin, dass die Abi-Feiern nicht zu teuren Opernbällen ausarten sollten.

Viele Abiturientinnen und Abiturienten wollen ihren Abschluss heute vielseitig feiern, der gediegene Ball gehört dazu. Die Jahrgänge geben zum Teil fünfstellige Beträge für Festsäle, Catering und Live-Band aus. Das Abitur ist damit auch zu einer großen Managementaufgabe geworden: Es bilden sich in den Schulen schon lange vorher Festkomitees, die Strategien zur Finanzierung erarbeiten und Sponsoren suchen. Ich kenne einen Abiturjahrgang, in dem die Schüler zum Blutspenden gingen, um Geld für die Feier zu bekommen. Das Abitur ist aufwendiger und teurer geworden. Da wird mit größeren Summen hantiert als vor ein paar Jahrzehnten.

Woran liegt das?

Das Abi ist nicht mehr der Freischein für die glorreiche berufliche Zukunft. Heute macht ein größerer Anteil eines Altersjahrgangs Abitur als noch vor einigen Jahrzehnten. Der höchste allgemeinbildende Schulabschluss ist weniger exklusiv geworden, mit dem Abitur gehört man nicht mehr automatisch zu einer Elite. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten nach dem Abitur explodiert. Es gibt eine Vielzahl neuer Studiengänge, die Auswahloptionen sind unübersichtlich, die Wege nicht mehr so klar vorgezeichnet wie einst. Es ist heute sehr viel schwieriger, sich nach der Schule zu orientieren. Das führt dazu, dass man das Abitur selbst, die Gemeinschaft und das Vertraute, noch einmal zelebrieren will.

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Abiturienten feiern ihren Abschluss so ausgiebig, weil er an Wert eingebüßt hat?

Es gibt immer mehrere Gründe, die zu solchen Entwicklungen führen, einer davon ist: Je unsicherer die Aussichten, desto intensiver wird das Abi gefeiert. Man schafft Rituale, die Sicherheit geben und Gemeinschaft stiften. Bei Hochzeiten erleben wir ein ähnliches Phänomen: Die Scheidungsraten widersprechen der Vorstellung, dass die Ehe automatisch der Bund fürs Leben ist. Und auch der Alltag vor und nach der Eheschließung unterscheidet sich nicht mehr so klar wie früher, man lebt heute in der Regel schon vorher zusammen und hat eine sexuelle Beziehung. Die Hochzeit ist also nicht mehr aus sich selbst heraus ein Übergang in eine ganz andere Lebensphase. Umso aufwendiger muss sie daher gefeiert und mit Ritualen aufgewertet werden.

Sie haben als Volkskundlerin Schulen besucht und Abi-Feiern und Abi-Scherze analysiert. Was hat Sie dabei besonders beeindruckt?

Überrascht hat mich, wie groß das Spektrum ist - vom wilden, kreativen Abi-Gag bis zum opulenten Ball, der sich stark an Formen der Erwachsenenwelt orientiert. Die Schülerinnen und Schüler lassen sich heute einiges einfallen: Ich habe erlebt, dass ein Stufenlehrer mit einer weißen Stretchlimousine zum Abi-Gag vorgefahren wird. Gehört habe ich auch, dass ein Jahrgang den Direktor mit dem Hubschrauber eingeflogen hat. Ein anderer Jahrgang hat den Schulleiter zum Abi-Streich morgens mit Krankenwagen und Zwangsjacke abgeholt.

Wie haben sich Abi-Scherze im Lauf der Jahre gewandelt?

Das Ziel bleibt immer gleich: Es geht darum, sich selbst zu feiern und zum Ende der Schullaufbahn einmal den Schulablauf zu stören und Unterricht ausfallen zu lassen. Aber die Mittel ändern sich.

Und zwar?

Früher war es beliebt, mit Schulmöbeln die Gänge zu versperren, so dass niemand in die Klassenräume kam und der Unterricht verzögert wurde. Wir selbst zum Beispiel haben 1989 unsere Schule mit einer riesigen Pappwand verbarrikadiert und Hindernisse vor dem Lehrerzimmer aufgestellt. In den 1990er und 2000er Jahren hat sich das gewandelt: Abiturienten stellten mit professioneller Eventtechnik ganze Bühnenshows auf die Beine, die in der Pause begannen und dann die folgenden Schulstunden ausfallen ließen. Es ging weg vom bloßen, auch etwas destruktiven Gag, der nur den Unterricht torpedieren sollte, hin zu einem ausgearbeiteten Programm, mit dem die ganze Schulgemeinschaft unterhalten werden sollte. Darin drückt sich auch ein gewandeltes Verhältnis der Abiturienten zur Schule und zu den Lehrkräften aus: In unseren Forschungen haben viele gesagt, sie wollten ihrer Schule auch etwas zurückgeben. Vielleicht auch, weil es die autoritären Pauker, die man am letzten Tag ärgern will, heute so nicht mehr häufig gibt.

Gabriele Dafft ist wissenschaftliche Referentin am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Dort hat die Volkskundlerin die Bräuche rund um das Abitur untersucht. (Foto: Stefan Arendt/LVR-ZMB)

In den vergangenen Jahren gerieten Abiturienten allerdings immer wieder mit ihren Eskapaden in die Schlagzeilen. In München bestellten Abiturienten eine Stripperin in die Schule, in Köln lieferten sich Schüler Schlachten, in Duisburg zogen sie im vergangenen Jahr vermummt durch die Stadt. Verroht der Abi-Gag?

Das ist vielleicht die Kehrseite der Entwicklung. Die Abi-Gags sind in den vergangenen Jahren professioneller geworden, man stimmt sich partnerschaftlicher mit den Verantwortlichen an der Schule ab. Vieles ist damit aber auch erwartbarer geworden: Jedes Motto gab es schon einmal, jede Show-Idee wurde schon probiert. Ein Abi-Scherz ist immer eine Gratwanderung. Ich könnte mir vorstellen, dass bei manchen die Sehnsucht gewachsen ist, das Rebellische am Abi-Gag wieder mehr auszuleben.

In Pfaffenhofen trugen Schüler im vergangenen Jahr ihren Abi-Streich symbolisch zu Grabe, um gegen die Auflagen zu protestieren, die die Schulleitung ihnen angeblich gemacht hat. Hat der Abi-Gag vielleicht einfach seine beste Zeit hinter sich?

Meiner Beobachtung nach bemühen sich Schüler und Lehrer in der Regel im Dialog darum, wie die Abi-Rituale ablaufen sollen. Der Zenit der Eskapaden scheint mir vorbei zu sein. Aber es wird nach neuen Formen gesucht. Seit einigen Jahren wird der Abi-Streich nicht mehr an einem Tag gefeiert, sondern auf ganze Mottowochen ausgedehnt. Das letzte Stündlein des Abi-Gags hat wohl noch lange nicht geschlagen.

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