Abendschule:Abi auf dem zweiten Weg

Abendschule: Erst der Integrationskurs, dann die reguläre Klasse, dann Abitur und Studium. Ein mühsamer Weg für die Schüler.

Erst der Integrationskurs, dann die reguläre Klasse, dann Abitur und Studium. Ein mühsamer Weg für die Schüler.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Auf einem Abendgymnasium holen Menschen ihr Abitur nach, die wissen, wie es ist, einen Neuanfang zu wagen. Wo könnten Geflüchtete besser integriert werden als hier?

Von Matthias Kreienbrink

Es dürfte viele Deutsche geben, die nicht wissen, dass "obwohl" eine Subjunktion ist. Oder "daran" ein Pronominaladverb. Yasser Alzahab weiß es. Es ist Viertel nach sechs am Abend, in der Integrationsklasse der Peter-A.-Silbermann-Abendschule steht das Thema Satzbau auf dem Lehrplan. Und in der zweiten Reihe sitzt Alzahab, mit rotem T-Shirt und Siebentagebart, und meldet sich. Vor drei Jahren kam der 24-Jährige aus Syrien nach Deutschland, er lebt in Berlin. Nach einer Wohnung sucht er seit eineinhalb Jahren, deutsche Freunde hat er auch noch nicht gefunden. Aber mit der Sprache klappt es gut. Für ihn ist gerade alles auf Deutsch: Fernsehen, Filme, Facebook.

Alzahab hat die Schule eigentlich vor vielen Jahren abgeschlossen, in Syrien. Danach studierte er Ökonomie in Damaskus, bis er eines Tages in der Universität festgenommen wurde - "ich weiß bis heute nicht, warum", sagt er. Nach drei Monaten im Gefängnis floh er vor dem Krieg in seiner Heimat, Ende 2015 kam er in Deutschland an. Und hoffte, sein Studium fortsetzen zu können. Vergeblich. Sein Abiturzeugnis wird nicht anerkannt. Alles von vorne also. Deshalb sitzt er nun hier im Klassenzimmer, mit jungen Männern und Frauen aus Syrien, Iran, Afghanistan, alle Anfang 20, wie er. Erst der Integrationskurs, dann die reguläre Klasse, dann Abitur und Studium. Ein mühsamer Weg. Aber für Alzahab auch eine Chance. Denn ein Abendgymnasium kann ein ganz besonderer Ort der Integration sein.

Das Peter-A.-Silbermann im gutbürgerlichen Berlin-Wilmersdorf, gegründet 1927, ist das älteste der 92 Abendgymnasien in Deutschland. Der Unterricht an den staatlichen Abendgymnasien ist kostenlos, bis zum Abitur dauert es zwei bis vier Jahre, je nach vorherigem Abschluss. 20 000 Menschen sitzen Abend für Abend bis 21.30 Uhr im Unterricht. Sie alle sind freiwillig hier und in der Regel sehr motiviert: Während 38 Prozent der Abiturienten des ersten Bildungsweges das Studium in den ersten Semestern abbrechen, sind es bei denen eines Abendgymnasiums nur sechs Prozent. Sie wissen, dass es nicht einfach wird - das Abendgymnasium besuchen die meisten neben dem Beruf, oft nach einer achtstündigen Schicht.

Und noch etwas verbindet die Menschen, die hier ihr Abitur nachholen: Viele von ihnen hatten kein einfaches Leben, sind auf dem ersten Bildungsweg aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht ans Ziel gekommen. Sie kennen das Gefühl, noch nicht angekommen zu sein, neu anfangen zu müssen. Wo könnten Geflüchtete besser integriert werden als hier?

Vincent Muckenheim ist der Lehrer des Integrationskurses. Sein Lebenslauf ist wie der jener Menschen, die üblicherweise ein Abendgymnasium besuchen: voller Wendungen. 2012 hat er seinen Magister in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft, Geschichte und Skandinavistik gemacht. Nach dem Abschluss arbeitete er in einem Spielzeugladen, nebenbei machte er ein Fernstudium am Goethe-Institut - Deutsch als Fremdsprache. 2014 Quereinstieg als Lehrer. Seit zwei Jahren leitet er den Kurs, der sich an junge geflüchtete Menschen richtet, die für den ersten Bildungsweg zu alt sind. "Viele haben durch den Krieg ihre Zeugnisse verloren - oder diese werden in Deutschland nicht anerkannt", sagt Muckenheim.

Sein Zeugnis "schwimmt irgendwo im Mittelmeer"

Den Lehrplan hat der 35-Jährige selbst entwickelt. Am Ende des sechsmonatigen Kurses steht eine Abschlussprüfung, die dem B2-Niveau entspricht. Die Teilnehmenden werden so auf das Abitur am Abendgymnasium vorbereitet. "Ich habe mir gut überlegt, was ich in sechs Monaten eigentlich zumuten kann", sagt Muckenheim. Ebenso habe er sich aber überlegt, dass vor ihm Menschen sitzen, die Deutschland kaum kennen. Darum gehören Stadtrundgänge und Museumsausflüge ebenso zum Programm wie Grammatik und Vokabeltraining. Und Literatur natürlich: Mit der Integrationsklasse nimmt Muckenheim an diesem Abend nicht nur Satzbau durch, sondern auch "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von Heinrich Böll.

Aber Muckenheim ist überzeugt, dass das Deutsche für seine Schüler für immer eine Fremdsprache bleiben wird, wenn sie es nur aus Büchern lernen. "Der Knackpunkt der sozialen Integration ist doch auch die emotionale Bindung an die Sprache", sagt er. Also haben sie an der Schule ein Patensystem eingeführt. "Die Schulsprecher und Kurssprecher haben sich zusammengesetzt und überlegt: Was können wir machen, um den Geflüchteten den Start zu erleichtern?", erzählt Marvin Nehfe. Der 25-Jährige holt gerade selbst das Abitur nach, parallel arbeitet er in Teilzeit als Krankenpfleger. Vor einem Jahr hatten sie eine Idee: "Jeder Geflüchtete aus dem Kurs hat ein Puzzleteil bekommen - die Paten das Gegenstück."

Anfangs hatte Marvin Nehfe zwei Patenschaften. Einer verließ die Schule aber bald wieder, "ihm ging es psychisch gar nicht gut". Adam heißt der andere. Mit ihm habe er zusammen Deutsch gelernt, sich in Cafés getroffen, um über das Leben in Deutschland zu reden, über die Flucht, über alles, was er nun verarbeiten muss. "Adam hat in der Schule auch seine jetzige Frau kennengelernt. Sie erwarten ihr erstes Kind", erzählt er. Auf einer Schulfeier habe Adam ihr vor allen Leuten den Heiratsantrag gemacht.

Auf solche Momente hofft auch Arvin Ghaljaie. Den Integrationskurs hat er hinter sich gebracht, seit September 2017 geht er regulär aufs Abendgymnasium. In drei Jahren, so der Plan, wird er sein Abitur machen - zum zweiten Mal. "Es war ein Schock für mich, dass es so lange dauert", sagt er.

Ghaljaie lebt seit 2015 in Berlin, geboren wurde er in Afghanistan, aufgewachsen ist er in Iran. Dort hat der heute 21-Jährige als Verkäufer gearbeitet. Nur so konnte er sich die Schule leisten, auf der er sein Abitur gemacht hat. Das Zeugnis aber hat er nicht mehr, "das schwimmt irgendwo im Mittelmeer". Um sich vorzubereiten, geht er in die Bibliothek, in seiner Wohnung ist es ihm zu ruhig. "Ich kann besser lernen, wenn es nicht so still ist", erzählt er. Diese Geräusche, das Blättern, Tippen, Räuspern, die leisen Gespräche. "Ich habe anfangs in einer Turnhalle mit 300 Leuten gelebt. Das war nicht schön. Aber lernen konnte ich da gut."

Für Ghaljaie ist es wichtig, Menschen um sich zu haben, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Seit er den regulären Kurs des Abendgymnasiums besucht, hat er auch Kontakt zu Menschen gefunden, die in Deutschland geboren sind. Noch seien das nur Bekannte, sagt Ghaljaie. Doch wer weiß, vielleicht werden es irgendwann Freunde.

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