Freundschaft ist ein großes Wort. 25 Jahre alt wird der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag in diesem Jahr, da ist von Freundschaft viel die Rede. Dabei war der Ton zwischen beiden Ländern zuletzt nicht freundschaftlich. Deutschland lasse aus gutmenschlicher Naivität eine muslimische Invasion in Europa zu - so etwa lautet der Vorwurf aus Polen. Die Deutschen wiederum klagen über mangelnde polnische Solidarität in der Flüchtlingskrise und schauen mit Sorge auf die national-konservative Regierung, die Rechte von Justiz und Medien beschneidet.
Warum Debatten wie diese zwischen Deutschland und Polen häufig besonders emotional ablaufen, versteht besser, wer die gemeinsame Geschichte der beiden Länder kennt. Insofern ist es ein wegweisendes Projekt, das an diesem Mittwoch an der Robert-Jungk-Oberschule in Berlin vorgestellt wurde: ein Geschichtsbuch, das deutsche und polnische Lehrer und Historiker gemeinsam erarbeitet haben.
Überfall auf Polen 1939:Wie das Grauen des Zweiten Weltkriegs begann
Am 1. September 1939 überfällt Hitler-Deutschland Polen. Bereits in den ersten Stunden zeigen sich wesentliche Elemente der NS-Kriegsführung: Militärtechnik, Lüge und Brutalität. Fotos aus dem SZ-Archiv.
Die Außenminister beider Länder, Frank-Walter Steinmeier und Witold Waszczykowski, legten auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kabinettssitzung ihrer Regierungen einen Stopp in der Schule ein, um die außergewöhnliche Zusammenarbeit und auch besagten Nachbarschaftsvertrag zu würdigen. "Selbstverständlich ist das nicht, nach allem, was die Deutschen den Polen im 20. Jahrhundert angetan haben", sagt Steinmeier.
Deutsches Unrecht hat bis heute Folgen
In der Tat schwingt etwa die traumatische Erfahrung des deutschen Überfalls auf Polen im Jahr 1939 auch heute noch häufig mit, wenn sich polnische Politiker über deutsche Dominanz in Europa beklagen, sie sogar fürchten. Vor dem Hintergrund, dass Nazi-Deutschland und die Sowjetunion das Land 1939 unter sich aufteilten, beobachten die Polen auch jede Annäherung Deutschlands an Russland misstrauisch.
Ein gemeinsam erarbeitetes Geschichtsbuch könne da helfen, die Traumata, Bedürfnisse und Befindlichkeiten des jeweils anderen besser zu verstehen, glaubt Steinmeier. Sein Kollege Waszczykowski stimmt zu: "Vor 40 Jahren, als ich zur Schule ging, konnte ich von so einem Buch nur träumen."
Dessen Autoren ist es wichtig zu betonen, dass das Buch sich nicht ausschließlich um die deutsch-polnischen Beziehungen dreht. Es heißt ja schließlich: "Europa - Unsere Geschichte". Thema seien die unterschiedlichen Erfahrungen aller europäischen Länder, sagt Michael Müller von der Martin-Luther-Universität in Halle, Co-Vorsitzender des Expertenrates.
Die Besonderheit liege eben darin, dass es unterschiedliche Sichtweisen herausarbeite. "Wir wollten keine einheitliche, geglättete Erzählung anbieten", sagt Müller. Die Schüler müssten vielmehr begreifen, dass es in Europa unterschiedliche Erfahrungen gebe und dass diese das eigene Verständnis von Geschichte prägten. "Auch wir haben während der Arbeit gelernt, wie unterschiedlich man Geschichte interpretieren kann."
"Wir werden uns vermutlich bis ans Ende aller Tage und noch einen Tag länger über ein Thema wie Flucht und Deportation streiten", sagt auch Robert Traba vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. "Aber wichtig ist, dass wir es auf derselben Wissensgrundlage tun." Er spricht damit einen Konfliktpunkt in den deutsch-polnischen Beziehungen an, der vor einigen Jahren im Streit um ein geplantes Vertriebenenzentrum eskalierte. Erika Steinbach, damalige Vertriebenen-Präsidentin und umstrittene Abgeordnete der CDU, wurde in Polen zum Sinnbild von deutschem Geschichtsrevisionismus.
Lauten Applaus erhält zum Schluss der Veranstaltung die polnische Geschichtslehrerin Katarzyna Moskiewicz für diesen Satz: "Ich erwarte mir von dem Buch, dass die Schüler eine eigene Wertung vornehmen, aus einer multiperspektivischen Sicht. Und dass sie etwas Distanz zu ihrer eigenen Geschichte einnehmen."
Polen und Deutschland:Annäherung in schwierigen Zeiten
Andrzej Duda und Joachim Gauck feiern den Nachbarschaftsvertrag und mahnen zu Geduld.
Das verstehen die Zuschauer als Seitenhieb auf nationalistische Tendenzen in Polen und eine Debatte, die unterschiedliche Sichtweisen auf politische Probleme immer weniger vorsieht, gar unterdrückt. Das kritisieren viele EU-Partner Polens, darunter auch Deutschland. Sie werfen der regierenden national-konservativen Partei PiS vor, sich mehr und mehr von der Demokratie abzuwenden.
Diplomaten auf dem Fußballfeld
Eenn gar nichts mehr hilft, dann bleibt ja doch noch die große Völkerverständigungsmaschine Fußball. Die beiden Außenminister witzeln über ihren gemeinsamen Besuch des EM-Spiels zwischen ihren Ländern. "Als wären das lauter Diplomaten, haben sie sich auf ein Null zu Null geeinigt", sagt Steinmeier. "Ich wünsche mir, dass wir uns im Finale wiedertreffen", setzt sein Kollege Waszczykowski hinterher. Erst einmal aber geht es für die beiden zur gemeinsamen Kabinettssitzung.
Ein Null zu Null wäre dort nach den Debatten der vergangenen Monate sogar ein Fortschritt.