Schule:Wie Nordrhein-Westfalen die Inklusion umkrempelt

Förderschulen der Diakonie

Gemeinsamer Unterricht muss sein, sagt laut Umfrage mehr als die Hälfte aller Lehrer. Die Bedingungen für ein Gelingen seien jedoch schlecht.

(Foto: Jens Büttner/dpa)
  • Der Streit um die Inklusion an Schulen entzweit Lehrer, Wissenschaftler und Politiker.
  • Die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen will nun eine "Neuausrichtung der Inklusion" umsetzen.
  • Regelschulen sollen dadurch entlastet werden, Sonderschulen weiterhin erhalten bleiben.

Von Susanne Klein

Wenn ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist - welche Schule sollte es dann besuchen? Ist eine Sonderschule mit Förderung in kleinen Gruppen das Beste? Oder eine sonderpädagogisch unterstützte Regelschule, mitten in der Gesellschaft?

Beschämend finden es manche, dass diese Frage überhaupt noch gestellt und dass so erbittert darüber gestritten wird. Doch die sogenannte Inklusion - die Integration von aktuell 524 000 gehandicapten Kindern und Jugendlichen in die reguläre Schule - ist kein Selbstläufer. Höchst unterschiedlich sind die Fortschritte in Deutschland. In Bremen besuchen 89 von 100 Schülern mit Förderbedarf eine Regelschule. In Hessen nur 27. Über die Qualität des inklusiven Unterrichts sagen solche nackten Zahlen kaum etwas. Über den politischen Willen umso mehr:

UN-Behindertenrechtskonvention

2009 trat in Deutschland die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen in Kraft. Sie verpflichtet Vertragsstaaten dazu, ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Befürworter einer strikten Inklusion verstehen darunter die Abschaffung von Sonderschulen. Dagegen sehen Anhänger des gegliederten Schulsystems Sonderschulen als Teil des allgemeinen Schulsystems, das folglich inklusiv sei. Der Streit entzweit Lehrer, Wissenschaftler und Politiker. SPD, Grüne und Linkspartei wollen Sonderschulen eher schließen, CDU, CSU und FDP sind eher für deren Erhalt.

Zukunft der Inklusion in NRW

Wie gefährlich der politische Wille den Regierenden werden kann, haben die letzten Wahlen in Nordrhein-Westfalen gezeigt. Einer der Hauptgründe für die Abwahl von Rot-Grün war die Schulpolitik. Der Tropfen, der den Frust zum Überlaufen brachte, war die Inklusion. Mehr als ein Viertel aller förderbedürftigen Schüler in Deutschland lebt in NRW: 140 500 Kinder und Teenager. 41 Prozent von ihnen besuchen Regelschulen, vor zehn Jahren waren es zwölf Prozent. Doch um den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap auch qualitativ erfolgreich aufzubauen, fehlt es bis heute vielen Schulen an Ausstattung und Fachpersonal. Lehrer und Eltern protestierten immer lauter. Gut gemeint, schlecht gemacht, lautete die landläufige Kritik an der rot-grünen Politik.

Schwarz-Gelb will es in NRW nun besser machen. Eine "Neuausrichtung der Inklusion" verkündete Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kürzlich. Die Eckpunkte sind vom Kabinett schon gebilligt:

Vom Schuljahr 2019/20 an dürfen von der fünften Klasse an nur noch Schwerpunktschulen inklusiven Unterricht anbieten. Dafür müssen sie Sonderpädagogen, geeignete Konzepte und Räume vorweisen können. Die Eingangsklassen werden im Durchschnitt mit 25 Kindern gebildet, drei davon mit Förderbedarf. 1024 Schulen hatten zuletzt weniger Förderkinder pro Eingangsklasse aufgenommen - nach den neuen Regeln fallen sie damit aus dem System.

Jede Klasse bekommt zu der Lehrkraft eine halbe Stelle hinzu, die mit Pädagogen, Erziehern oder Sozialarbeitern besetzt werden kann. So sollen in den sechs Jahren des Umbaus 6000 Stellen mehr für die Inklusion bereitgestellt werden, als von Rot-Grün vorgesehen. "Die Landesregierung investiert massiv in die Inklusion", so Gebauer.

Gymnasien ist eine Art Inklusion light erlaubt: Sie müssen nur behinderte Kinder aufnehmen, die das Zeug zum Abi haben.

Sonderschulen will Schwarz-Gelb erhalten, indem die Mindestgrößen gesenkt werden. 40 akut von Schließung bedrohte kleine Schulen können sich so retten. Personell fahren Sonderschulen schon im nächsten Schuljahr besser: Insgesamt erhalten sie dann 11 235 Stellen, davon 930 "Mehrbedarfsstellen". Die Regelschulen bekommen für ihre Förderaufgabe 6965 Stellen.

"Der Stellenmarkt für Sonderpädagogen ist leergefegt"

Kritik

Das Deutsche Institut für Menschenrechte, das die Umsetzung der BRK beobachtet, befürchtet, dass die Reform in NRW "das Langziel eines inklusiven Schulsystems gefährdet". Das schwindende Vertrauen der Beteiligten in die inklusive Bildung werde so weiter geschwächt. Als "Enttäuschung auf ganzer Linie" wertet die Kölner Elterninitiative Mittendrin die neuen Standards: Durch die Schwerpunktschulen werde die Zahl der Schulen gemeinsamen Lernens deutlich sinken. Zudem wirft die Initiative der Regierung vor, verfügbares Fachpersonal für die Sonderschulen zu reservieren.

Wie groß die Personalnot ist, drückt Marianne Schardt, Bundesgeschäftsführerin des Verbandes Sonderpädagogik (VDS) aus: "Ob Förderschulen oder inklusive Schulen, der Stellenmarkt für Sonderpädagogen ist leergefegt." René Schroeder, VDS-Vorsitzender in NRW, weiß, dass zum Beispiel im Bezirk Düsseldorf im ersten Halbjahr 2018 von 400 Stellen nur 70 besetzt waren. Dennoch begrüßt er die Reform, sie bringe "endlich klare Bedingungen".

Schon lange jedoch kritisieren Experten ein Doppelsystem aus Sonder- und Regelschulen als ineffektiv und zu teuer. Und obwohl die kostspieligen Sonderschulen den Löwenanteil des Fachpersonals an sich binden, entlassen sie 71 Prozent ihrer Schüler ohne jeden Schulabschluss, rügt etwa der Ländervergleich Inklusive Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein Beitrag zur Gleichberechtigung sei das nicht.

Bundesweite Umsetzung

Einige Bundesländer streben inklusiven Unterricht an jeder Schule an, andere setzen auf Schwerpunktschulen. Bremen vertritt den inklusiven Ansatz am konsequentesten, es hat bis auf wenige Spezialförderzentren alle Sonderschulen aufgelöst. Auch in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin gehen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufiger auf Regel- als auf Sonderschulen. In den anderen Ländern ist es umgekehrt. In Bayern besuchen sogar mehr Kinder mit Handicaps die Sonderschule als vor zehn Jahren.

So ist es auch in Baden-Württemberg, wo Schulministerin Susanne Eisenmann (CDU) selbst kleinste Sonderschulen erhalten will. Die von ihr geplanten neuen Mindestgrößen, etwa Grundschulen mit acht oder Haupt- und Realschulen mit neun Schülern, hält die Landesarbeitsgemeinschaft "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen" für "pädagogisch absurd und reine Ressourcenverschwendung". Das Personal dieser Zwergschulen werde dringend für die Inklusion benötigt.

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