Inklusion im Unterricht:Wenn Lehrer an ihre Grenzen stoßen

Die Vorgabe ist klar: Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen zusammen unterrichtet werden. In Bayern wird das seit einem Jahr erprobt. Nun zeigen sich erste Probleme und die Lehrer klagen, auf diese neuen Aufgaben würden sie überhaupt nicht vorbereitet. Sie fühlen sich alleingelassen.

Stephan Handel

Es ist eine schöne, eine fast romantische Vorstellung: Keine Unterschiede mehr, alle Kinder sind gleich, sie werden gemeinsam unterrichtet, ein jedes nach seinen Bedürfnissen. Keine Schul-Ghettos mehr, in die Kinder, die irgendwie "anders" sind, abgeschoben werden, damit die "normalen" durch nichts gehindert werden auf ihrem Weg von der Grundschule zur Universität. Die "anderen" Kinder werden von den "normalen" mitgezogen, die wiederum lernen ihrerseits Toleranz, Rücksichtnahme und die Einsicht, dass andere Menschen nicht weniger menschlich sind, nur weil sie anders aussehen, komische Sachen sagen, im Rollstuhl sitzen oder Medikamente nehmen müssen, damit sie wenigstens mal eine Dreiviertelstunde stillsitzen können.

Inklusion bedeutet mehr als Integration. Integration geht davon aus, dass es sehr wohl Unterschiede gibt zwischen einem Kind, das Probleme hat, eine ausreichende Zeit aufmerksam zu sein, und einem, das ohne Schwierigkeiten den Schultag bewältigen kann. Aber, sagt die Integration, die Bedingungen in zum Beispiel einer Schulklasse müssten eben so verändert werden, dass auch das ADHS-Kind dem Unterricht folgen und am Ende stolz auf seinen Lernerfolg sein kann. Inklusion hingegen meint, dass Heterogenität der Normalfall ist, dass Menschen nicht eingeteilt werden sollten in normal und behindert, in leistungswillig und förderungsbedürftig.

So weit die Theorie, die in Bayern versucht, Praxis zu werden: Seit einem Jahr arbeiten 160 Klassen an 40 Schulen im Freistaat nach inklusiven Regeln, wie es das Kabinett beschlossen hat. Nun zeigt sich, dass es doch nicht so einfach ist, eine an sich gute Sache zum Prinzip zu erklären und einfach loszulegen.

Maria Geier ist Schulpsychologin am Münchner Albert-Einstein-Gymnasium und unterrichtet dort auch Mathematik, kennt also die Situation, in der sich Lehrer täglich befinden, aus eigener Erfahrung. Sie könne, sagte Geier, aufgrund ihrer psychologischen Ausbildung gewisse Dinge unter ihren Schülern schon erkennen. Aber in einer fünften Klasse mit 30 Kindern bleibe oft nicht die Zeit für eigentlich notwendige pädagogische Interventionen. Noch schlimmer sei es bei vielen ihrer Kollegen, die sie um Rat fragten, weil ihnen ihre Ausbildung nichts an die Hand gab, um mit außergewöhnlichen Situationen im Unterricht umzugehen. "Die sind oft richtig beschämt", sagt Geier.

Maria Geier saß am vergangenen Mittwoch zusammen mit fünf anderen auf einem Podium an der Münchner Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 200 Zuhörer waren gekommen, um zu hören - und zu berichten - über Inklusion, wie weit sie ist und wo es hingehen soll. Es wurde dann aber doch eher eine Bestandsaufnahme des Mangels - was alles fehlt, an Ausstattung, Ausbildung, "Geist und Geld", wie es Joachim Kahlert formulierte, Inhaber des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität.

Anne Kohtz-Heldrich zum Beispiel leitet die Schule an der Heckscher-Klinik, die jene Kinder und Jugendlichen unterrichtet, die wegen psychischer Probleme mehr oder weniger lange stationär in der Klinik sind. Sie weist auf den grundlegenden Unterschied zwischen Pädagogik und Psychiatrie hin: dass sich das Arbeiten mit dem Kind jeweils in unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegt. Während die Pädagogik an langfristiger Einwirkung interessiert ist, will die Psychiatrie schnelle Wirkung erzielen. Kahlert weitet diese Differenz aus auf Sonder- und "gewöhnliche" Pädagogik: Während Sonderpädagogen in erster Linie die Förderung ihrer Zöglinge im Blick hätten, bewegten sich Lehrer an Regelschulen in "curricularen Welten", seien also eher daran interessiert, Stoff durchzubringen und den Lehrplan zu erfüllen.

Diagnostizierfähigkeit" ist ein Stichwort: Wie Lehrer erkennen können, was mit ihren Schülern los ist. Martin Liebl findet, dass das überhaupt kein Problem ist: Im Landschulheim Kempfenhausen am Starnberger See, dessen Direktor er ist, gebe es eine Art "Hausgebrauchs-Psychiatrie" und den gesunden Menschenverstand, so dass sie dort auch gut mit Schülern zurechtkämen, die die Heckscher-Klinik von ihrer Außenstelle Rottmannshöhe herüberschickt. Außerdem müsse ein Lehrer das auch aushalten können: "Wir sind die Wand, gegen die Pubertierende rennen können." Das soll wohl heißen: Nicht jede Störung des Unterrichts muss gleich psychologisiert werden, oft reicht zur Erklärung auch das Aufbegehren junger Menschen gegen die Regeln, die Erwachsene ihnen aufstellen.

Wenn man mit Lehrern spricht in diesen Tagen, dann berichten sie oft von einem Gefühl, alleine gelassen zu werden - dass sie versuchen, allen ihren Schülern gerecht zu werden. Aber dass sich dann Eltern beschweren, wenn es mit dem Stoff nicht weitergeht. Dass es ja niemandem Spaß macht, in einer Klasse zu sitzen, in der vor lauter Pädagogik das Lernen zu kurz kommt. Und dass es bei allem guten Willen an Hilfe fehlt. Eine Realschullehrerin berichtet, ihr sei ein Jugendlicher aus der Heckscher-Klinik zugewiesen worden, und die Klinik habe nur einen Arztbrief geschickt und ansonsten in nichts mitgeholfen, der Schule zur Seite zu stehen. Da kann sich Franz Joseph Freisleder, der Ärztliche Direktor, nur auf das Arztgeheimnis zurückziehen und darauf, dass Eltern oft nicht wollten, dass die Diagnosen ihres Kindes an die Schule weitergegeben werden.

Volker Mall ist der Ärztliche Direktor des Kinderzentrums, das zu den Kliniken des Bezirks Oberbayern gehört. Er weist darauf hin, dass an den Förderzentren all jene Therapien vorhanden und in den Stundenplan integriert sind, die gerade körperlich behinderte Schüler zum Teil täglich benötigen, Physiotherapie oder Logopädie beispielsweise. Besuchen diese Kinder eine Regelschule, so bleibe die Organisation dieser Notwendigkeiten komplett an den Eltern hängen, einschließlich der Chauffeur-Dienste. Mall glaubt, dass sich Schulen auf bestimmte Anforderungen ihrer behinderten Schüler spezialisieren werden: zum Beispiel Gebärdendolmetscher für Hörbehinderte oder eben Krankengymnasten für Spastiker. Das würde allerdings den Regeln der Inklusion widersprechen, weil ja wieder Unterschiede geschaffen würden.

Und was sagt die Politik? Staatssekretär Bernd Sibler aus dem Schulministerium sprach viel von Prozessen, von Zeit, die benötigt werde, von einem Weg, auf dem sich die Schule befinde - ganz so, als müsse er sich selber eingestehen, dass sie da etwas angefangen haben, was nicht bis zum Ende durchdacht war. Immerhin: Jeweils 100 neue Lehrerstellen will die Staatsregierung in den nächsten beiden Jahren schaffen und 250 an den Förderschulen.

Joachim Kahlert, der Wissenschaftler, sagt, dass Deutschland sowieso über inklusive Schulen verfüge, zumindest im großen Ganzen: Niemand falle aus dem Schulsystem heraus, weil er bestimmten Anforderungen nicht genüge. Einig sind sich aber alle: Dass es für manchen Schüler trotzdem besser sei, an einer speziell für seine Bedürfnisse eingerichteten Schule unterrichtet zu werden, ganz exklusiv.

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