Forschungsprojekt zu Gewalttaten:"Schulmassaker ähneln Terroranschlägen"

FLOWERS AND CANDLES ARE PLACED AT THE MAIN ENTRANCE OF THE GUTENBERG SECONDARY SCHOOL IN ERFURT

Das erste Schulmassaker jüngerer Vergangenheit ereignete sich am 26. April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Dabei erschoss ein 19-Jähriger 16 Menschen.

(Foto: REUTERS)

Wie werden aus jungen Menschen Massenmörder? Dieser Frage geht ein neues Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin nach. Im Gespräch erklärt Entwicklungspsychologe Vincenz Leuschner, warum Schulmassaker keine Amokläufe sind.

Von Johanna Bruckner

Erfurt, Emsdetten, Winnenden. Diese Städtenamen stehen für unvorstellbare Gewalt, die junge Menschen in Deutschland ihren (ehemaligen) Mitschülern, Lehrern und unbeteiligten Personen angetan haben. Der Frage nach dem Warum widmet sich jetzt ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin. Der Bund unterstützt das Vorhaben mit drei Millionen Euro. Vincenz Leuschner ist Entwicklungspsychologe und Koordinator des "Networks against School Shootings" (Netwass) der FU. Süddeutsche.de hat mit ihm über die Gemeinsamkeiten von Schulattentätern und Terroristen gesprochen - und über die Grenzen von Gewaltprävention.

SZ.de: Herr Leuschner, seit dem Schulmassaker von Erfurt sind mehr als zehn Jahre vergangen. Warum hat man damals kein Geld in die Hand genommen, um die Hintergründe zu erforschen?

Natürlich gab es nach Erfurt Forschungsbestrebungen, vereinzelt auch -projekte. Aber es ist traurigerweise so, dass erst mehrere Fälle allgemeingültigere Aussagen erlauben. In Forschungsjahren gerechnet sind zehn Jahre keine lange Zeit. Eine wissenschaftliche Analyse von Gewalttaten ist zudem erst möglich, wenn alle Ermittlungs- und Gerichtsverfahren abgeschlossen sind. Vorher ist es für Forscher schwierig, Zugang zu den Akten zu bekommen. Eine große Schwachstelle bisheriger Studien ist, dass sie sich vor allem auf Medienberichte stützen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts sollen "alle Fälle hochexpressiver zielgerichteter Gewalt mit Einzeltätern unter 25 Jahren in Deutschland vergleichend analysiert werden". Doch lassen sich Schulmassaker wie der Amoklauf von Erfurt tatsächlich mit politisch motivierten Bluttaten vergleichen?

Ja. Zum Verständnis ist es zunächst wichtig, die einzelnen Begriffe zu klären. Die Bezeichnung "Amoklauf" im Zusammenhang mit Gewalttaten an Schulen ist in der Wissenschaft höchst umstritten. In der diagnostischen Psychologie und Psychiatrie bezeichnet "Amok" eine Störung, die erstmals im südostasiatischen Raum beobachtet wurde. Charakteristisch ist ein spontaner, explosionsartiger Gewaltausbruch, der sich gegen zufällig anwesende Personen richtet. Auf die allermeisten Schulmassaker treffen diese Merkmale nicht zu. Die Täter von Erfurt und Winnenden haben ihre Gewaltakte lange vorbereitet, und die Schulen wurden nicht wahllos attackiert, sondern gezielt. Von ihrer Entstehung her ähneln solche Taten eher terroristischen Anschlägen.

Gibt es neben der Planung noch weitere Gemeinsamkeiten?

Terroranschlägen wie Schulmassakern geht häufig ein Radikalisierungsprozess der Täter voraus, nicht selten ausgelöst durch ein einschneidendes Erlebnis. In der Folge bauen sich die Betroffenen ein Feindbild auf. Der Hass von Arid Uka, der am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschoss, richtete sich gegen die Vereinigten Staaten. Der Zorn des Schulattentäters von Erfurt gegen ehemalige Lehrer und Mitschüler. Oft steht dahinter eine bestimmte Ideologie. Bei Terroristen ist sie zwar offensichtlicher - aber auch Schulattentäter versuchen ihrer Gewalt eine politische Tragweite zu geben. So haben die Attentäter von Columbine von einer "Revolution der Ausgeschlossenen" gesprochen. Terroranschläge wie Schulmassaker geschehen außerdem öffentlich, sie sollen eine symbolische Wirkung entfalten.

Das soziale Klima an Schulen, Killerspiele, zu laxe Waffengesetze: Diese Begriffe fallen immer wieder im Zusammenhang mit Schulmassakern. Welche Faktoren spielen tatsächlich eine Rolle, wenn junge Menschen zu Gewalttätern werden?

Solche Taten haben keine einzelne Ursache. Das Zusammenspiel mehrerer Faktoren führt zum Gewaltakt. Wobei es natürlich Gemeinsamkeiten gibt, die sich über mehrere Fälle beobachten lassen.

Zum Beispiel?

Wir gehen davon aus, dass es in den Biographien von Schulattentätern immer eine persönliche Krise gab, in der sich die Jugendlichen als Opfer gefühlt haben. In der sie für sich keinen Ausweg mehr gesehen, keine geeigneten Bewältigungsstrategien gefunden haben. Meist sind diese Situationen im schulischen Kontext verortet und mit einem gefühlten Statusverlust verbunden. Das kann ein Mobbing-Erlebnis sein, aber auch ein als ungerecht empfundenes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Ob diese Krise aber den Beginn von Gewaltphantasien markiert oder konkreter Auslöser einer Tat ist, das ist von Fall zu Fall unterschiedlich.

Nicht selten haben Amokläufer ihre Taten vorher in sozialen Medien angekündigt. Jüngst wurde aber auch die These diskutiert, junge Menschen ohne Facebook-Profil seien verdächtig, weil sowohl der Aurora-Attentäter James Holmes als auch der Grundschulmörder Adam Lanza dort nicht aktiv waren. Was ist tatsächlich typisch für Gewalttäter?

Es wird sich nie in allen Fällen ein gleiches Muster ergeben. So kündigt nicht jeder Attentäter seine Tat vorher in sozialen Medien an - zumindest nicht in den geläufigen wie Facebook oder SchülerVZ. Jugendliche, die ihre Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, dem Schulsystem, ihrer Situation teilen wollen, treffen sich eher in spezielleren Chats. Auch die Alleingänger-These ist nicht immer zutreffend. Bei vielen Taten, die wir untersucht haben, waren die Täter nicht komplett sozial isoliert, sondern hatten durchaus Kontakt zu anderen, eher außenstehenden Jugendlichen.

"Täter inszenieren sich als einsame Rächer"

Die meisten Attentäter sind männlich. Woran liegt das?

Männer sind bei fast jeder Art von Gewalt überrepräsentiert. Das ist vor allem auf die unterschiedliche Sozialisation der Geschlechter zurückzuführen: Gewalt spielt bei der Entwicklung und Identitätsfindung männlicher Jugendlicher eine größere Rolle. Interessant ist die Frage, inwieweit Heranwachsende in den vergangenen Jahrzehnten in einen Konflikt mit dem traditionellen Männlichkeitsbild gerieten - was möglicherweise auch eine Ursache von Gewaltakten ist. Denn es ist schon auffällig, wie sehr die Selbstinszenierung der Täter den einsamen Rächer, den "Desperado" verherrlicht, wie wir ihn aus Hollywood kennen. An diesem Bild orientieren sich im Übrigen nicht nur School Shooter, sondern auch terroristische Attentäter wie der Norweger Anders Behring Breivik.

Themenpaket Winnenden

Am 11. März 2009 ermordete ein 17-Jähriger an der Albertville-Realschule im baden-württembergischen Winnenden zwölf Menschen, auf seiner Flucht tötete er drei weitere Personen.

(Foto: dpa)

Die Freie Universität Berlin hat ein Krisenpräventionsprojekt an mehr als 100 Schulen durchgeführt. Worum ging es dabei?

Im Rahmen unseres Projekts haben wir Lehrer geschult, psychosoziale Notlagen bei Schülern frühzeitig zu erkennen und zu melden. Hintergrund ist das Wissen, dass im Vorfeld fast jedes School Shootings ein sogenanntes "Leaking" stattgefunden hat. Das heißt, die Jugendlichen haben ihre Taten in irgendeiner Weise angekündigt. Sei es ganz direkt, in dem sie davon gesprochen haben, mit einer Waffe in die Schule zu kommen. Sei es, dass sie ein besonderes Interesse für Schulmassaker gezeigt haben, oder dass sie sich vollkommen zurückgezogen haben, quasi unsichtbar wurden.

Lehrer müssen sich also nicht nur fragen "Wer fällt mir auf?", sondern auch "Wer fällt mir nicht auf?"?

In den meisten Fällen machen Schulattentäter im Vorfeld nicht durch eine lange Liste von Fehlverhalten auf sich aufmerksam. Das erschwert natürlich die Früherkennung. Aber es ist wichtig, dass Lehrer lernen, unterschiedliche Verhaltensweisen als Warnzeichen wahrzunehmen, nicht nur im Hinblick auf Attentate. Wir bauen auch darauf, dass sich durch Präventivmaßnahmen beispielsweise Suizide verhindern lassen. Hier sind im Vorfeld ähnliche Symptome zu beobachten.

Gab es im Pilotprojekt eine Schulform, an der besonders viele Vorfälle gemeldet wurden?

Ja - wobei diese Zahlen keine Aussage darüber machen, wie viel an einer Schule tatsächlich passiert. Zum Beispiel haben Grundschulen mehr Vorfälle gemeldet als andere Schulformen. Das liegt aber schlicht daran, dass Grund- und Hauptschullehrer stärker darauf trainiert sind, Krisensituationen zu erkennen. An Gymnasien steht dagegen die Wissensvermittlung im Vordergrund. Gymnasiallehrer setzen sich viel weniger mit der sozialen Situation ihrer Schüler auseinander.

Finnland wird regelmäßig für sein Bildungssystem gelobt. Dennoch gab es dort in den vergangenen fünf Jahren zwei Schulmassaker und einen Amoklauf, bei dem ein erst 18-Jähriger zwei Menschen getötet und weitere schwer verletzt hat. Wie erklären Sie sich das?

Grundsätzlich können School Shootings überall passieren. Weil eben nicht nur ein Faktor ursächlich ist, sondern mehrere Dinge zusammenkommen. Ein vorbildhaftes Bildungssystem ist keine Garantie gegen Schulmassaker. Auch die sensibelsten Lehrer werden nicht verhindern können, dass sich ein Schüler zurückgesetzt fühlt und damit nicht umgehen kann. Man muss sich der Grenzen von Präventionsprogrammen bewusst sein: Wir können Schulmassaker nicht vorhersehen.

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