Förderschulen:Kinder in der Sackgasse

  • Das Land NRW muss einem Jungen Schadenersatz zahlen, weil er jahrelang zu Unrecht eine Förderschule besuchen musste.
  • Experten sind sich sicher, dass es sich hier um keinen Einzelfall handelt.
  • Sie hoffen, dass nun Gutachten sorgfältiger erstellt und Förderschwerpunkte jedes Jahr unter die Lupe genommen werden.

Von Susanne Klein

Ein normal intelligentes Kind, das mit dem Etikett "geistig behindert" auf eine Förderschule gehen muss - was dem Schüler Nenad M. geschah, kommt offenbar häufiger vor als bisher bekannt. Das lässt sich an Reaktionen auf das Urteil des Landgerichts Köln ablesen, das dem ehemaligen Sonderschüler am Dienstag Schadenersatz zusprach.

Sein Fall sei "besonders krass, aber definitiv kein Einzelfall", sagt die Anwältin Anne Quack, die den heute 21-Jährigen vor Gericht vertrat. Als Fachanwältin für Schul- und Schwerbehindertenrecht habe sie seit 2005 "sehr, sehr viele Kinder vertreten, die den Förderschwerpunkt wechseln oder auf eine integrative Schule gehen sollten". Ohne die Klage ihrer Eltern wären diese Kinder aus der schulischen Sackgasse, in der sie steckten, nicht wieder herausgekommen

Auch der Kölner Elternverein Mittendrin, der Nenad M. seit Jahren unterstützt und seine Klage finanziert hat, weist darauf hin, dass seine Geschichte keine Einzelerscheinung und kein Problem der Vergangenheit sei. "Wir wissen aktuell von falsch etikettierten Schülern auf Sonderschulen", sagt die Vereinsvorsitzende Eva Thoms. Aus Rücksicht auf die Betroffenen mache man diese Fälle nicht öffentlich. Weitere Eltern, die von Problemen mit Förderschwerpunktgutachten und Schulwechseln berichten, hätten sich bei dem Verein gemeldet, nachdem sie in der Presse über das Kölner Gerichtsurteil gelesen hätten. Öffentlich zu Wort meldete sich die Bielefelder Elternvereinigung "Die Inklusiven". Ihr seien ebenfalls Fälle bekannt, bei denen Schüler, die intellektuell in der Lage wären, eine Regelschule zu besuchen, auf eine Schule mit Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" gehen.

Auf einer solchen Schule war auch Nenad M. Seiner Ansicht nach befanden sich dort "viele Schüler, die genauso normal waren wie ich". Er selbst habe immer wieder darauf hingewiesen, im Unterricht unterfordert zu sein und die Schule wechseln zu wollen, denn auf der Schule für geistig Behinderte habe er "nichts gelernt". Seinen Sonderpädagogen hätte bei der gebotenen jährlichen Überprüfung auffallen müssen, dass der Förderschwerpunkt des Jungen nicht stimmt, so das Kölner Gericht. "Gesunder Menschenverstand hätte schon ausgereicht, um das zu sehen", sagt M.s Anwältin.

Nichtsdestotrotz schrieben die Pädagogen die Diagnose seiner angeblichen geistigen Behinderung von Jahr zu Jahr fort. Sie war gestellt worden, kurz nachdem Nenad M. im Alter von sieben mit seiner Familie aus Serbien eingewandert war und noch kein Deutsch sprach. Erst mit fast 18 gelang ihm der Absprung in eine Berufsschule, in der er mit Bestnoten seinen Hauptschulabschluss nachholte.

Juristin nennt das Urteil "bahnbrechend"

So wie damals Nenad M. ergeht es heute vielen Kindern, die mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, glaubt Sigrid Beer, bildungspolitische Sprecherin der Grünen in NRW. "Ich höre immer wieder von Unterstützern der Flüchtlingshilfe, dass Kinder mit Sprachschwierigkeiten an Förderschulen verwiesen und ihnen Lernbehinderungen unterstellt werden." Ohne Hilfe von außen könnten sich die Eltern dagegen kaum wehren, die Sprachbarriere sei einfach zu groß.

Aber auch deutsche Eltern sind von der Situation schnell überfordert, weiß Anne Quack. Viele würden nicht durchschauen, was mit ihren Kindern im Förderschulsystem geschieht, oder fühlten sich dem Gespräch mit Pädagogen, Sonderpädagogen und Schulleitern nicht gewachsen. Deshalb sei der Fall Nenad M. auch nur die Spitze des Eisbergs, so die Anwältin: "Da gibt es eine ganz krasse Dunkelziffer." Trauen Eltern sich aber zu, die Experten kritisch zu hinterfragen, kann das eine Fehldiagnose korrigieren. Besonders häufig begegnen der Anwältin Irrtümer bei angeblichen Lernbehinderungen. In mindestens 30 Fällen, die sie vertreten hat, habe sich bei den Kindern eine Lese-Rechtschreibstörung, eine Rechenstörung oder eine Kombination aus beidem als Ursache ihrer schulischen Probleme herausgestellt. Dumm seien diese Kinder jedoch nicht gewesen.

Das Urteil des Landgerichts Köln nennt die Juristin "bahnbrechend". Zu Prozessbeginn im März 2017 hatte es danach nicht ausgesehen: Das Gericht räumte der Klage so wenig Chancen ein, dass es Nenad M. keine Prozesskostenbeihilfe gewährte. Nun aber hat es die falsche Beschulung des jungen Mannes als Amtspflichtverletzung eingestuft - nach Kenntnis der Anwältin ein bundesweites Novum. Wegen dieser Pflichtverletzung muss das Land NRW Nenad A. eine Entschädigung zahlen. Die Höhe wird erst beziffert, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Quack rechnet damit, dass das Land in die Berufung geht.

Eine Signalwirkung habe das Urteil aber so oder so: "Es zeigt Eltern, dass sie sich wehren können." Außerdem hofft sie, dass Gutachten nun sorgfältiger erstellt, Förderschwerpunkte jedes Jahr unter die Lupe genommen und die individuellen Lehrpläne der Schüler gewissenhaft überprüft werden.

Das nordrhein-westfälische Schulministerium müsse nun dringend sicherstellen, dass es keine weiteren Fehleinschätzungen in Förderschulen gibt, fordert Sigrid Beer. Wie das Haus von Yvonne Gebauer (FDP) dafür sorgen will, ist Gegenstand einer kleinen Anfrage, die die Grünen-Abgeordnete am Donnerstag eingereicht hat. Es sei Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass kein Kind mehr in der "Schonraumfalle" hängen bleibe.

Diese Falle kennt auch Eva Thoms. "Nenads Schulakte zeigt, dass seine Lehrer wirklich glaubten, in ihrer Schule sei er am besten aufgehoben. Sie haben gedacht, an der Regelschule geht er unter." Tatsächlich untergegangen sei bei M. dann aber das Recht auf bestmögliche Bildung und einen Schulabschluss.

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