100 Jahre Waldorf:"Die Waldorfschule ist stark weltanschaulich bestimmt"

100 Jahre Waldorf: ´Mehr als nur seinen Namen tanzen"

Postkarten markieren in der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe, der ersten ihrer Art, die Korrespondenz mit anderen Waldorfschulen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Warum in der Waldorfpädagogik mehr Esoterik steckt, als viele Eltern vermuten, erklärt der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich.

Interview von Bernd Kramer

Am 7. September 1919, einem Sonntag, spricht Rudolf Steiner in Stuttgart zu Eltern und ihren Kindern. Steiner, der Begründer der Anthroposophie, einer aus christlichen Vorstellungen und fernöstlichen Lehren zusammengemischten bürgerlichen Ersatzreligion, macht schnell klar, dass er der modernen Wissenschaft nur begrenzt traut. Lehrer müssten zu Propheten werden. "Unmöglich ist es, gerade aus dem heraus, was unsere Zeit so groß macht in der Beherrschung der toten Technik, die lebendige Kunst des Erziehens zu entwickeln", sagt Steiner in seiner Ansprache. "Eins muss sein Kindesseele und Lehrerseele durch ein unterbewusstes geheimnisvolles Band, das vom Lehrergeist übergeht in den Kindergeist." Eine neue Schule soll das schaffen: die Waldorfschule, die an diesem Tag vor 100 Jahren gegründet wurde. Inzwischen gibt es weltweit über tausend Waldorfschulen - die nach wie vor oft streng der befremdlichen Weltanschauung Steiners folgen, wie der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich sagt.

SZ: Herr Ullrich, am Samstag feiern die Waldorfschulen ihr 100-jähriges Jubiläum. Zum Geburtstag hat sich mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann prominenter Besuch angekündigt. Gehen Sie auch zur Feier?

Heiner Ullrich: Nein, da muss ich nicht hin. Ich gratuliere allerdings den Waldorfschulen gern, sie haben einen Erfolg zu feiern. Ich möchte als Erziehungswissenschaftler gleichwohl in einer kritischen Distanz verbleiben. Kritisch heißt im Fall der Waldorfpädagogik für mich: klar zu unterscheiden zwischen bewährter Praxis und dubioser Theorie.

Der Waldorf-Erfinder Rudolf Steiner war eine schillernde Figur, ein selbsternannter Hellseher und okkulter Prediger. Wie kam es, dass er vor 100 Jahren eine Schulform begründen konnte, die bis heute Bestand hat?

Die Initiative dazu ging nicht von Steiner aus. Mit pädagogischen Fragen hatte er sich kaum beschäftigt. Die Idee hatte der Tabak-Unternehmer Emil Molt. Er wollte eine Schule schaffen für die Kinder der Arbeiter seiner Zigarettenfabrik in Stuttgart. Molt war Anhänger der Anthroposophie, also fragte er Steiner. Und der war mit einem Mal neben seinen vielen anderen Rollen als Philosoph, Theosoph, Künstler und Lebensreformer auch noch Schulreformer. Steiner war schulpädagogisch komplett Autodidakt. Innerhalb weniger Wochen konzipierte er seine eigene Pädagogik und Didaktik.

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Wie ging Steiner dabei vor?

Steiner stellte ein Kollegium zusammen, das hauptsächlich aus Quereinsteigern und fast ausschließlich aus Anhängern seiner Anthroposophie bestand. Die hörten stark auf Steiner, denn er war ihr weltanschaulicher Führer. Beachtlich war, dass Steiner die Waldorfschule als Einheitsschule anlegte, während sich gerade das dreigliedrige deutsche Schulsystem fest etablierte. Ansonsten hat sich Steiner aber kaum mit der reformpädagogischen Bewegung seiner Zeit auseinandergesetzt. Und wenn, dann lehnte er sie eher ab. Das ist insofern bemerkenswert, als dass die Waldorfschule bis heute von vielen Eltern fälschlicherweise als reformpädagogische Schule verstanden wird.

Das ist sie nicht?

Die Waldorfschule ist stark weltanschaulich bestimmt. Reformpädagogen wie Maria Montessori haben das aktive Kind in den Mittelpunkt gerückt und viel mit Formen wie der Freiarbeit experimentiert. Waldorf ist aber bis heute überwiegend Frontalunterricht. Gruppenarbeit gibt es kaum. Der Klassenlehrer führt in autokratischer Weise durch acht Schulfächer und soll dabei, ausgehend von Steiners Menschenkunde, die Entwicklung des Kindes in seinem zweiten Lebensjahrsiebt vor Augen haben.

Im zweiten Lebensjahrsiebt?

Anthroposophen denken gern in symbolischen und heiligen Zahlen. Die Entwicklung des Menschen verläuft für sie in Sieben-Jahres-Schritten, was sich wissenschaftlich-empirisch heute so überhaupt nicht mehr begründen lässt. In den ersten sieben Jahren steht nach anthroposophischer Auffassung die Nachahmung der Erzieherinnen im Vordergrund der Entwicklung, im zweiten Jahrsiebt das Anerkennen der Autorität des Klassenlehrers, und erst im dritten Jahrsiebt ist Mündigkeit vorgesehen.

Das klingt ziemlich starr.

Ja. Manche Waldorfschulen legen die Lehre so aus, dass Kindern erst zu Beginn des dritten Jahrsiebts ein eigenständiger Umgang mit elektronischen Medien gestattet wird. In der Medienbildung tun sich viele Waldorfschulen daher schwerer als staatliche Schulen, denn natürlich benutzen die Kinder in der Freizeit schon lange ihr Handy und den Computer. Eine radikale Medienabstinenz in der Schule kann keine angemessene pädagogische Antwort sein - erst recht, wenn zu Hause anders erzogen wird. Steiner hatte übrigens die Vorstellung, dass der Klassenlehrer priesterliche Qualitäten haben sollte. Er soll das Kind sogar noch als ein reinkarniertes Geistwesen erkennen, das zuvor schon mehrere Erdenleben durchlaufen hat.

Waldorflehrer überlegen ernsthaft, was ein Kind aus seinem früheren Leben mitgebracht haben könnte?

Das ist nicht ausgeschlossen. Ich glaube zwar nicht, dass die meisten Waldorflehrer so ticken. Aber mehr als 90 Prozent von ihnen befassen sich nach eigenen Angaben immer noch intensiv mit der Lehre Steiners. In der Waldorfliteratur finden sich durchaus esoterische Vorstellungen. Da ist sogar von einer karmischen Verbundenheit des Klassenlehrers mit seiner Klasse die Rede. Anthroposophen vertreten bis heute die antik-mittelalterliche Lehre der vier menschlichen Temperamente, die spätestens mit der modernen Persönlichkeitspsychologie abgedankt hat. Der Waldorflehrer soll demnach das Temperament des Kindes auf Basis seiner spirituellen Menschenkunde erkennen. In der Literatur wird vorgeschlagen, dass Schülerinnen und Schüler mit ähnlichem Temperament in den Klassen zusammengesetzt werden. Vermeintliche Melancholiker sollen also neben anderen vermeintlichen Melancholikern sitzen, vermeintliche Phlegmatiker neben anderen vermeintlichen Phlegmatikern. Unser Alltagsverstand würde vermutlich eher ein lebhaftes Kind zu einem ruhigeren setzen.

100 Jahre Waldorf: Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz. Der Experte für Reformpädagogik hat mehrere Bücher über die Waldorfpädagogik und ihren Begründer Rudolf Steiner geschrieben.

Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz. Der Experte für Reformpädagogik hat mehrere Bücher über die Waldorfpädagogik und ihren Begründer Rudolf Steiner geschrieben.

(Foto: oh)

Ist das wirklich so problematisch?

Es ist zumindest insofern problematisch, als sich ein solches Vorgehen mit heutigem Expertenwissen schlicht nicht begründen lässt, aber in der Waldorfpädagogik mit einem quasi-wissenschaftlichen Gültigkeitsanspruch auftritt. Wenn das aber die Basis für das sein soll, was an der Schule passiert, dann ist das Ausdruck einer autoritären Diskussionskultur. Ein Gespräch über die richtigen schulischen Methoden wird schwierig, wenn Rudolf Steiner und seine Offenbarungen immer das letzte Wort haben sollen. Wir Uneingeweihten können sie ja nicht in Frage stellen, weil wir nicht den meditativen Schulungsweg zur Erkenntnis der höheren Welten gegangen sind, den Rudolf Steiner seinen Geistesschülern vorgeschrieben hat.

Steckt denn heute wirklich noch in jeder Waldorfschule so viel Esoterik wie vor 100 Jahren?

Verallgemeinerungen sind sehr schwierig, jede Waldorfschule ist anders. Es gibt manchmal sogar progressive Neugründungen, die sich explizit gegen konservative Steiner-Schulen richten. Das ist ja das Paradoxe an der Waldorfpädagogik: Sie ist einerseits bestimmt durch eine autoritäre Diskussionskultur. Die letzten Wahrheiten des Gründers Rudolf Steiner können nicht in Frage gestellt werden. Andererseits gibt es wiederum liberale Waldorfpädagogen, die ganz beachtliche Innovationen schaffen, die zum Beispiel berufliche mit allgemeiner Bildung verbinden, ihre Schule bewusst interkulturell anlegen oder sich um den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung bemühen.

Wie erklärt es sich, dass die Waldorfschule trotz der obskuren Weltanschauung so erfolgreich werden konnte?

Waldorf steht für eine Entschleunigung des Lernens und verspricht trotzdem einen erfolgreichen Weg zum Abitur, das circa 90 Prozent der Waldorfschüler anstreben. Die Inhalte sind hochkulturell: Es gibt einen eigenen Waldorflehrplan, in dem Grimms Märchen, Goethes Naturforschung und Parzival eine prominente Rolle spielen. Dieses Bildungskonzept spricht heute vor allem bildungsbürgerliche Eltern an, selbst solche, die mit der Anthroposophie sonst gar keine Berührung haben - und das sind die allermeisten. 95 Prozent der Eltern haben die deutsche Staatsangehörigkeit, sie haben dreimal so häufig die Hochschulreife wie die übrige Bevölkerung. Die stärkste Gruppe unter den Waldorfeltern sind erstaunlicherweise übrigens Lehrerinnen und Lehrer an staatlichen Schulen. In dieser Hinsicht hat sich die Waldorfschule in den vergangenen 100 Jahren stark verändert: Sie wurde 1919 für die Kinder der sozial Schwachen gegründet, heute ist sie hochselektiv. Zur Waldorfschule gehen nicht mehr die Kinder der Fabrikarbeiter, dort findet man inzwischen den Nachwuchs des privilegierten, gebildeten Bürgertums.

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