Wehr- und ZivildienstMemoiren eines Zivis

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Zivis gehörten einst zu den wichtigen Stützen des Sozialsystems.
Zivis gehörten einst zu den wichtigen Stützen des Sozialsystems. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Vor 40 Jahren standen Männer vor der Wahl: Wehr- oder Zivildienst. Die Erfahrungen, die sie dabei machten, prägten sich fürs Leben ein.

Kolumne von Sebastian Beck

Liebe Kinder! Liebe Enkel! Nun folgt eine kleine Besinnungsansprache eures Boomer-Altvorderen. Es war im Jahr 1983, als er im Keller eines Jugendzentrums nahe München saß und einen herzzerreißenden Aufsatz verfasste, warum er nie im Leben eine Waffe anfassen würde. Offen gestanden hatte er einfach null Bock, vor einem Unteroffizier strammzustehen. Aber er bestand die Überprüfung seines geheuchelten Gewissens und trat den Zivildienst im Alten-Servicezentrum Au/Haidhausen der Münchner Caritas an.

Sein erster Einsatz führte ihn in die Pariser Straße, wo er von da an jeden Morgen einem alten Mann aus dem Bett half, den Urin-Katheter leerte und mit ihm über Fußball diskutierte. Nachdem diese Aufgabe erledigt war, rasierte er einen Herrn Weiß, und zwar bis an dessen Lebensende. Mittags fuhr der Zivi Essen aus, ein Job, bei dem er mit allen Formen des Elends und der Vereinsamung Bekanntschaft machte. In der Elsässer Straße zum Beispiel hielt eine Frau jeden Tag vor der Tür Ausschau nach ihrem Mann, weil der ein rechter Weiberer sei: Er solle bloß zusehen, dass er heimkomme! Der Mann lag derweil oben im fünften Stock in einem verdreckten Bett, unter dem Schaben herumliefen. Einmal erzählte er davon, wie er im Ersten Weltkrieg in Galizien gefrorene Leichen aufs Pferdefuhrwerk lud.

Meistens waren es Nachbarn, die bei der Caritas anriefen, wenn Gestank durchs Treppenhaus zog. Dann rückte der Zivi im Schutzanzug an, um Wohnungen samt Bewohner wieder in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen. Als Dank dafür steckte ihm eine Frau jeden Tag denselben 500-Mark-Schein in die Hosentasche. Wieder und wieder.

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Die 16 Monate bei der Caritas zählen zu den eindringlichsten Erfahrungen im Leben des ehemaligen Zivis. Allein schon deshalb, weil er zum ersten Mal aus dem wohlgeordneten Bürgermilieu des Vororts heraus gezwungen wurde. Noch heute kann er im Münchner Osten jedes Haus benennen, in dem seine Kunden lebten oder starben. In der Erinnerung ist die Zeit als eine Art Monumentalgemälde des Alltags und der Vergänglichkeit gespeichert.

Deshalb wundert sich der ehemalige Zivi, warum überhaupt noch über die Wiedereinführung der Wehrpflicht gestritten wird. Angesichts des Pflegenotstands und des Personalmangels bei der Bundeswehr. Ein bis zwei Jahre kann auch heute jeder für die Allgemeinheit opfern. Nur eins hat sich geändert: Eine Wehr- und Dienstpflicht muss heute auch für Frauen gelten. So viel Gleichberechtigung sollte schon sein.

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