Zeitgeschichte:Rätsel der Vergangenheit

Zeitgeschichte Fotografie

Fotos aus dem Bildband von Martin Ortmeier: "Seinerzeit auf dem Land" - alte Bilder von Frauenalltag und Männerwelt in Ostbayern.

(Foto: Battenberg Gietl Verlag)

Vom Landleben in früherer Zeit existieren zwar Fotografien, doch oft sind Personen und Orte nicht mehr zu bestimmen. Museumsleiter Martin Ortmeier begibt sich auf Spurensuche.

Von Hans Kratzer

Allein auf der Plattform Facebook werden täglich 300 Millionen Fotos hochgeladen. Im Internet-Zeitalter erlebt die Fotografie einen Höhenflug ohnegleichen. Und doch drängt sich die Frage auf, was von dieser flüchtigen Bilderflut bleiben, was auf all den Clouds und Festplatten überdauern wird. Den Maßstab für den Wert alter Fotografien hat der Philosoph Karl Valentin, der auch ein Bildersammler war, schon vor hundert Jahren definiert. Ein altes Bild von München sei mehr wert als ein Brillant, sagte Valentin.

Eine ähnliche Sammelleidenschaft pflegt auch Martin Ortmeier, der Leiter der niederbayerischen Freilichtmuseen Massing und Finsterau, die ein umfangreiches Fotoarchiv besitzen. Dort ist das ländliche Leben in allen Facetten dokumentiert, die Häuserlandschaften und die Arbeitswelten ebenso wie die Menschen. Der einzige Makel dieser papierenen Schätze besteht oft darin, dass über ihren Inhalt keinerlei Informationen existieren. So liegen haufenweise Porträts von Menschen im Archiv, deren Namen für immer verloren sind. "Dabei wäre es so einfach gewesen, auf der Rückseite der Papierbilder Namen und Ort zu notieren", sagt Ortmeier.

Um mehr Sensibilität im Umgang mit solchen Zeugnissen zu wecken, hat Martin Ortmeier einen Bildband zusammengestellt, in dem er exemplarisch aufzeigt, wie man vorgehen muss, um alten Fotografien doch noch so manches Geheimnis zu entlocken ("Seinerzeit auf dem Land, Alte Bilder von Frauenalltag und Männerwelt in Ostbaiern", SüdOst Verlag, 19,90 Euro). Erstes Ziel sei es, die Umstände der Aufnahme zu rekonstruieren, sagt Ortmeier. Anhand der Arbeitskleidung und der Festtagstracht der Menschen können zum Beispiel Zeit und Ort der Fotografie eingegrenzt werden. Häuser geben Hinweise auf die Herkunftsregion des Bildes. Gelegentlich ist an einem Haus eine Inschrift zu entziffern, die weitere Recherchen ermöglicht.

Da der Zeitpunkt der Aufnahme oft zu lange zurückliegt, sind die Namen der abgebildeten Personen verweht. Die Fotografien sind es trotzdem wert, genauer betrachtet zu werden. Wissenschaftler und Museen haben längst erkannt, welch kostbare Quelle solche Zeugnisse darstellen, gerade in Zeiten, in denen sich Landschaft und Lebensumstände in einem atemberaubenden Tempo verändern.

Mit der Beschleunigung der Welt ist auch ein immer schnellerer Verlust des Vergangenen verbunden. Jedes anonyme Bild wirft Fragen auf. Warum hat diese Hochzeitsgesellschaft von 1910 im Winter geheiratet und warum trug die Braut ein weißes Kleid, was damals unüblich war? Warum schauen die Menschen bei festlichen Anlässen so verhärmt? Warum durften sich in einem Fall junge Frauen an einem Weiher vor einer Friedhofskirche so freizügig ablichten lassen? Meistens bleibt es rätselhaft, warum die Landfotografen ihre Kamera aufstellten, eine Glasplatte einlegten und Szenen aus dem Alltag festhielten. Das normale Leben war für diesen Aufwand uninteressant. Die Frauen, die am frühen Morgen in den Stall gingen, um das Vieh zu melken, die den Waschkessel vorheizten, wen sollte das interessieren?

Und doch zeigen Bilder aus dem Archiv, wie Frauen ihre Hausarbeit verrichten - und auch Männerarbeit. Aus den Fragen, die sich beim Betrachten ergeben, "lassen sich Gedanken über unsere Werte, unsere Zeit und unsere Zukunft schöpfen", sagt Ortmeier. Von Millionen Menschen bleibe keine Erinnerung übrig. "Mit meiner Arbeit sichere ich wenigstens ein paar Menschen ein Nachleben."

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© 2017 pieknikphoto // sebastian pieknik

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