Fall WunsiedelNach Tod von Zehnjähriger – Ermittlungen gegen Behörden und Heim-Betreuer eingestellt

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Im April 2023 starb eine Zehnjährige in einem Kinderheim in Wunsiedel.
Im April 2023 starb eine Zehnjährige in einem Kinderheim in Wunsiedel. (Foto: Daniel Vogl/dpa)

Im April 2023 wird ein Mädchen in einem oberfränkischen Kinderheim vergewaltigt und dann von einem Elfjährigen getötet. Die Ermittler sehen bei den zuständigen Ämtern kein Versagen.

Von Max Weinhold, Hof

Anderthalb Jahre nach dem gewaltsamen Tod eines Mädchens in einem Wohnheim im oberfränkischen Wunsiedel hat die Staatsanwaltschaft Hof ihre Ermittlungen wegen möglicher Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflichten „mangels hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt. Das teilte ein Sprecher am Dienstag mit.

Zu „den tragischen Ereignissen“ – der Vergewaltigung des Mädchens durch einen damals 25-Jährigen und seiner späteren Tötung durch einen zu dem Zeitpunkt elfjährigen Mitbewohner – haben aus Sicht der Staatsanwaltschaft keine Vergehen von Verantwortungsträgern bei Behörden oder in dem Heim geführt, sondern vielmehr „nicht erwartbare Umstände“.

Nach dem Tod des Mädchens waren bei der Staatsanwaltschaft Hof verschiedene Strafanzeigen gegen Verantwortliche des Kinderheims, der beteiligten Jugendämter und des Familiengerichts wegen der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht und Körperverletzung eingegangen. „Eine umfassende Abklärung der Verfahrensgänge, die jeweils zur Heimunterbringung der beiden Kinder geführt hatten, sowie der Betreuung der Kinder in dem Kinderheim hat die pauschalen Behauptungen des Anzeigenerstatters nicht bestätigt“, teilte die Staatsanwaltschaft nun mit. Weder bei der Betreuung des Mädchens noch bei der Betreuung des Jungen seien durch die jeweils zuständigen Jugendämter Fürsorge- oder Erziehungspflichten verletzt worden.

Die von den jeweiligen Ämtern – im Fall des Jungen das Stadtjugendamt Hof sowie das Kreisjugendamt Kulmbach, bei dem Mädchen das Jugendamt Tirschenreuth – ausgewählten Betreuungsformen hätten „der Lebenssituation der Kinder“ entsprochen. Das Mädchen war infolge eines Streits seiner getrennt lebenden Eltern über die richtige Schulform für sie dem Unterricht ferngeblieben und deshalb im November 2022 im St.-Josef-Heim in Wunsiedel untergebracht worden. Der aus seiner Kindheit traumatisierte Junge hatte bereits zuvor in verschiedenen Heimen gelebt und war nach einem Aufenthalt im Bezirksklinikum Bayreuth im Herbst desselben Jahres in die Unterkunft gekommen.

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Insbesondere dort, in dem Wunsiedler Heim, habe es „keine Hinweise auf eine von ihm ausgehende akute Selbst- oder Fremdgefährdung“ gegeben. Während seines fünfmonatigen Aufenthaltes in der Bezirksklinik Bayreuth und bis kurz vor seiner Entlassung war dies nach SZ-Informationen durchaus der Fall gewesen. Die Staatsanwaltschaft teilte auf SZ-Anfrage mit, „zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie waren keine Hinweise auf akute Selbst- oder Fremdaggressivität beobachtbar“.

Dem Heim sei ein Entlassungsbrief mit aktueller Anamnese, Therapieverlauf und Therapievorschlag zugegangen. Ob Anamnese, Therapieverlauf und Therapievorschlag sich tatsächlich mit seinem Verhalten in der Klinik decken, kann die Staatsanwaltschaft nicht beantworten – sie hat es nicht ermittelt. Die angezeigte Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht hätte nämlich nur von Mitarbeitern des Jugendamtes und des Kinderheims begangen werden können, nicht aber von jenen der Klinik. „Deren Aufgabe ist die ärztliche Heilbehandlung. Daher waren Diagnose und Therapie nicht Gegenstand der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung.“

Entsprechend den Empfehlungen aus der Klinik wurde der Junge also „in einer heilpädagogischen Gruppe des Kinderheims untergebracht“ und in keiner mit psychiatrischer Betreuung. Insbesondere aufgrund „der Persönlichkeitsstruktur des Jungen“ sei in dem Heim aber eine aufwendige Betreuung erfolgt, „die über die gewohnte Betreuung hinausging“. Wie der Leiter des Heims vor Gericht aussagte, lebte der Bub in einer kleineren Gruppe, sodass die Erzieher ihm mehr Aufmerksamkeit widmen konnten.

Auch dort, in dem Heim, hätten keine Pflichtverletzungen festgestellt werden können. Dies gelte auch für ein Badezimmerfenster im Erdgeschoss des Heims, das vermutlich eine Betreuerin offengelassen hatte und durch das der Mann in das Heim gelangt war. Es könne hierbei „aus strafrechtlicher Sicht eine Verletzung von Sorgfaltspflichten der Mitarbeiter gegenüber den betreuten Kindern nicht bejaht werden“. Überdies fehle es „an einem unmittelbaren Zurechnungszusammenhang“ zwischen einer Sorgfaltspflichtverletzung und dem späteren sexuellen Übergriff auf das Mädchen sowie seiner Tötung.

Ein Mann drang nachts in das Wohnheim ein und vergewaltigte das Mädchen

Wie ein umfangreicher Prozess am Landgericht Hof zu Beginn dieses Jahres ergeben hatte, war der Erwachsene, selbst ein ehemaliger Bewohner des St.-Josef-Heims in Wunsiedel, in finanziellen Nöten auf der Suche nach entwendbaren Elektrogeräten in der Nacht vom 3. auf den 4. April 2023 in die Unterkunft eingedrungen und dabei auf den psychisch kranken Jungen gestoßen. Anschließend, so die Überzeugung des Gerichts, hätten sich der Mann und der Junge über sexuelle Inhalte unterhalten, woraufhin der Erwachsene vor dem Kind onanierte. Dieses holte sodann das Mädchen in sein Zimmer, das der Mann, wie er vor Gericht einräumte, anschließend vergewaltigte.

Nach Überzeugung des Gerichts gerieten der Junge und das Mädchen wenig später, als der Mann bereits geflohen war, in Streit und der damals Elfjährige erdrosselte die Zehnjährige. Der Junge hatte vor Gericht ausgesagt, von dem Mann zu der Tat gezwungen worden zu sein. Ein aussagepsychologischer Sachverständiger hatte diesen Ausführungen aber keine Glaubwürdigkeit beigemessen. Das Gericht verurteilte den Mann unter anderem wegen Vergewaltigung zu siebeneinhalb Jahren Haft. Dagegen hatte die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt, diese später aber zurückgezogen. Die Revision des Jungen, der das Mädchen getötet hat, in dem Verfahren wegen des sexuellen Missbrauchs durch den Mann aber zugleich als Nebenkläger auftrat, läuft noch.

Ein Verfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornografischer Inhalte gegen den verurteilten Mann hat die Staatsanwaltschaft Hof indes eingestellt, wie sie der SZ bestätigte. Aus ihrer Sicht würde eine mögliche Verurteilung in diesem Fall hinsichtlich der bereits zu verbüßenden Strafe von siebeneinhalb Jahren Gefängnis nicht erschwerend ins Gewicht fallen. Bei den kinderpornografischen Inhalten auf seinen Geräten handle es sich „um einzelne Bilder“, nicht um große Datensätze. In dem Gerichtsprozess hatte ein Gutachter dem zweifachen Vater eine sogenannte Pädophilie in Nebenströmung attestiert. Das bedeutet, dass er zwar eine Präferenz für Kinder hat, aber auch ohne ihre (gedankliche) Anwesenheit sexuelle Erregung spüren kann.

Die Anwältin vom Vater des getöteten Mädchens wollte sich auf SZ-Anfrage zunächst nicht zu der Einstellung des Verfahrens äußern. Sie habe noch keine Akteneinsicht erhalten, sagte sie.

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