Süddeutsche Zeitung

Messerattentat von Würzburg:Drei Tote, neun Verletzte, ein großes Warum

Mitten in Würzburg hat Abdirahman J. vor knapp einem Jahr mit einem Messer auf Passanten eingestochen. Hätte die Tat verhindert werden können? Ist der Angeklagte schuldfähig? Das soll nun ein Mammutprozess klären.

Von Clara Lipkowski, Würzburg

Die Vorkehrungen liefen über Monate. Die Frage war: Wo und wie kann man einen Mammutprozess abhalten, den Würzburg noch nicht gesehen hat? Wo den Juristinnen, Nebenklägern, den vielen Zeuginnen, dem Beschuldigten mit seinen Anwälten und dem Übersetzer Platz bieten? Den Gutachtern, Journalistinnen, Sicherheitsleuten des Gerichts und nicht zuletzt den Menschen aus der Stadt? Viele wollen endlich besser verstehen, was passiert ist am 25. Juni 2021, mitten in Würzburg. Besonders die Hinterbliebenen und Opfer. Dieser Prozess, das war dem Landgericht Würzburg schnell klar, braucht Platz. Auch für all die Emotionen.

Ein Dreivierteljahr ist das Messerattentat von Würzburg jetzt her. Und es treibt viele Menschen weiter um. Zum Beispiel den Kellner Helmuth Andrew, 51, der immer mal wieder von Gästen auf den Abend angesprochen wird. Den immer noch beschäftigt, wie er damals raus ist, aus dem Restaurant, sich einen Stuhl griff, auf J. zu, ihm in die Augen sah.

Abdirahman J. betrat um 17 Uhr das Kaufhaus Woolworth am Barbarossaplatz. Es war ein warmer Freitag, Menschen erledigten Einkäufe, aßen auf dem Platz Eis, stiegen in die Tram. J. ließ sich im Geschäft von einer Verkäuferin die Messer zeigen. Dann ging alles ganz schnell. Mit einem etwa 30 Zentimeter langem Küchenmesser attackierte er der Staatsanwaltschaft zufolge mehrere Menschen. Erst im Kaufhaus, dann auf dem Barbarossaplatz. Wahllos. Äußerst brutal, teilte die Polizei später mit, er habe gezielt auf die Hälse seiner Opfer eingestochen.

Eine Elfjährige wird verletzt, ihre Mutter stirbt

Die Staatsanwaltschaft wirft J. vor, er habe in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen töten wollen. Drei Frauen sterben an dem Tag, neun weitere Menschen tragen Verletzungen davon, teils schwere, körperlich wie seelisch. Unter ihnen eine damals Elfjährige, die ihre Mutter verliert. Etliche Zeuginnen und Helfer müssen das blutige Geschehen mit ansehen. Handyvideos rasen Minuten nach der Tat durch die sozialen Medien.

Nach der Tat war die Erschütterung in der Stadt zu spüren, erstarrte, auch weinende Menschen blickten am abgesperrten Tatort in ein Meer aus Blumen und Kerzen. "Warum?", stand auf einem handgeschriebenen Zettel. Jetzt also ist alles wieder da. Der Kellner Andrew ist nun als Zeuge geladen, weil er sich als einer von mehreren mutigen Männern J. in den Weg stellte. Indem er ihn mehrfach mit einem Stuhl bewarf, hielt er ihn wohl von weiteren Taten ab.

Oberbürgermeister Christian Schuchardt schrieb am Tag nach der Tat in einem emotionalen, offenen Brief: "Ich habe gestern Abend geweint." Um die Opfer und Hinterbliebenen, um die Stadt. Nun, sagte er am Donnerstag der SZ, erhoffe er sich für die Angehörigen und Hinterbliebenen, dass der Prozess Aufklärung bringe.

Wegen der vielen Beteiligten - allein 14 Betroffene oder Angehörige von Opfern werden als Nebenkläger auftreten - und weil wegen Corona noch ein Abstandsgebot gilt, startet das Sicherungsverfahren des Landgerichts in Veitshöchheim nahe Würzburg in einer Veranstaltungshalle. Später wird unter anderem in einer Würzburger Eventlocation verhandelt. 27 Termine sind bis September angesetzt.

Zwei Anwälte für J., damit der Prozess nicht unnötig lang wird

Um den Prozess nicht unnötig in die Länge zu ziehen, wird J. von zwei Anwälten verteidigt, sollte einer mal nicht können. Mord in drei Fällen und versuchter Mord in elf Fällen, lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Und: J. stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.

Warum also der lange Prozess, wo doch an der Täterschaft nicht gezweifelt wird? Juristisch muss vor allem geklärt werden, ob J. zur Tatzeit schuldfähig, Herr seiner Sinne war. Er soll angegeben haben, während der Tat Stimmen gehört zu haben. Er habe sich rächen wollen, weil er von deutschen Behörden "gequält" worden sei.

Zwei voneinander unabhängige Gutachter, die J. nach der Tat untersucht haben, kommen zu dem Schluss, das er nicht schuldfähig war. Bei ihm wurde paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Kommt auch das Gericht zu diesem Schluss, würde J., wohl 33 Jahre alt, ganz sicher wissen es die Behörden nicht, nach dem Prozess vermutlich dauerhaft psychiatrisch untergebracht.

In den Stunden und Tagen nach der Tat kam der Verdacht auf, J. könne als Islamist einen Terrorakt verübt haben. Zeugen wollen gehört haben, dass J. "Allahu Akbar" rief. Der Verdacht bestätigte sich bei den Ermittlungen nicht. Allerdings hagelte es Kritik, weil J. schon früher psychisch auffällig geworden war, ein Gutachten über seinen Zustand aber auch nach Monaten noch nicht vorgelegen hatte.

Es wurde bekannt, dass J. einen Mitbewohner bedroht hatte. Er war zu einem Fremden ins Auto gestiegen, hatte sich geweigert, auszusteigen und forderte den Fahrer auf, ihn in den Stadtteil Frauenland zu fahren. Weil sich dort eine Klinik befindet, in der er schon zuvor war, vermutete ein Würzburger Psychiater, J. habe sich selbst einweisen wollen. In der Stadt war J. Passanten aufgefallen, weil er schnorrte, ausfällig wurde. Dass er trotz seiner Probleme nicht untergebracht war, ist deswegen für viele bis heute schwer zu ertragen. Doch auch das betonte der Psychiater: Es gebe in Deutschland "astronomisch" hohe Hürden, Menschen einzusperren. Mit gutem Recht. Die persönliche Freiheit ist ein hohes Gut.

Weil der Somalier J. als Asylbewerber 2015 nach Deutschland kam, hatte die AfD im bayerischen Landtag aufgeworfen, den Mann abzuschieben. J. hielt sich jedoch legal, mit subsidiärem Schutz, in Deutschland auf. Und darum gehe es jetzt auch gar nicht, sagt J.s Anwalt Hans-Jochen Schrepfer. Es gehe darum, die genauen Tatumstände zu klären, jeden einzelnen Angriff. Ihm zufolge auch, ob es jeweils Mord oder Totschlag war.

Der Prozess ist also auch der Versuch der Justiz, den Menschen zu zeigen, dass der Rechtsstaat funktioniert. Vor Gericht werden in den nächsten Wochen die Helfer erwartet, die Verkäuferin. Der Polizist, der J. mit einem Oberschenkelschuss stoppte. Schon an diesem Freitag könnte sich J. oder einer seiner Anwälte vor Gericht äußern.

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