Ein Besuch bei Willi Dürrnagel, dem Würzburger Sammler und Stadtrat schlechthin. Aber zunächst gehört es sich natürlich, ein scherzhaftes Wort an Margarete Dürrnagel zu richten, die ja immerhin im selben Haus lebt wie ihr Ehemann und dabei offenkundig keinen drängenden Anlass hat, sich über zu komfortable Bewegungsfreiheit zu beklagen. Also, Frau Dürrnagel: Ist es arg schlimm mit der sagenhaften Sammelleidenschaft ihres Gatten?
Margarete Dürrnagel antwortet: "Ja."
Gut, das war dann womöglich nicht der ganz optimale Gesprächseinstieg. Aber das Leben bietet ja immer eine Zweitchance; und da muss Margarete Dürrnagel an der Stelle höflichst entgegengehalten werden, dass ihr Gatte doch ein Zeitgenosse sei, der in der Universitätsstadt Würzburg wahrscheinlich bekannter ist als der amtierende Oberbürgermeister und das selbstredend nicht zuletzt durch seine Passion, der sich kein historisches oder kunsthistorisches Objekt mit irgendwie mainfränkischem Bezug einfach so entziehen kann. Margarete Dürrnagel mag da gar nicht widersprechen - und möchte den Gast im Übrigen auch nicht mit kniffligen Hausreinigungsfragen ungebührlich belasten. Ihr gehe es vielmehr ums Grundsätzliche: Ein Notfall, die Sanitäter müssen mit der Trage ins Haus, in die oberen Stockwerke. "Wie soll das gehen", frage sie sich und gelegentlich auch ihren Mann. Der Erkrankte müsste gegebenenfalls aus dem Fenster abtransportiert werden, weil die mit Würzburger Raritäten gefüllten Kartons in den Hausgängen keine andere Möglichkeit ließen. "Ist nicht lustig", sagt Margarete Dürrnagel, während sie vom Sofa aus über den Wohnzimmertisch blickt. Dort sitzt ihr Mann. Er nickt heftig. Und lacht dabei.
Margarete Dürrnagel muss zu einem Termin an dem Abend, zuvor aber will sie noch Rechenschaft ablegen, wie sie vor 48 Jahren Wahlwerbung verteilt hat am gemeinsamen Polterabend - weil ihr Mann kurz zuvor seine Leidenschaft für Kommunalpolitik entdeckt hatte. Und sie berichtet, wie bei Dürrnagels regelmäßig Leute anrufen, die das städtische Archiv bei Spezialfragen an die gut beleumundete Sammlung Willi Dürrnagel weitergereicht hat, mit den freundlichsten Empfehlungen!
Nun sei ja ihr Mann, ein früherer Postbeamter, seit etlichen Jahren pensioniert. Aber es gebe da eben nicht nur diese Ehrenfunktion als heimliches Haupt- und Staatsarchiv Würzburgs; ihr Mann sei auch noch Stadtführer ehrenhalber, multipler Handlungsreisender für Würzburg-Vorträge und Mitglied in etlichen Dutzend örtlicher Vereine: im Turnverein etwa und im Blindenobsorgeverein, genauso aber auch im Frankenbund und bei der Arbeiterwohlfahrt - übrigens nicht selten als Vorstandsmitglied oder gleich als Vorsitzender.
Pardon, wie viele Vereine sind es genau? Margarete und Willi Dürrnagel werden sich da nicht ganz einig. Herr Dürrnagel schließt sich aber seiner Frau und der Zahl "54" an. Sie, erklärt Willi Dürrnagel, habe das Vereinsbeitragswesen unter sich. Wisse das im Zweifelsfall also besser.
Andere Zahlen aus dem Kosmos Dürrnagel wird man wohl nie exakt beziffern können. Um die 50 000 Bücher dürfte Dürrnagel im Würzburger Stadtteil Sanderau eine Bleibe gegeben haben, einziges Kriterium: einen Mainfranken-, wenn möglich sogar konkreten Würzburg-Bezug sollten sie schon haben. Postkarten mit Würzburg-Motiv? Um die 15 000 werden es sein. Bilder und Gemälde? Gut, da kann man jetzt natürlich ins Treppenhaus der Dürrnagels schauen, wo zwischen den Arbeiten von Heiner Dikreiter, Getraud Rostosky und Wolfgang Lenz jeweils nur wenige Zentimeter Abstand gelassen sind, des Platzes wegen. Auf besonderen Wunsch enthüllt Margarete Dürrnagel aber auch den mit Tuch verhüllten, leicht sarkophagartig anmutenden schwarzen Berg, der sich zwischen Sofa und Bücherregal mitten im Wohnzimmer auftürmt und dabei ein bisschen wirkt wie der rosa Elefant im Raum, den man sich aus Gründen der Diskretion nicht gleich anzusprechen traut. Ah, eine Art Massiv aus gestapelten Würzburg-Aquarellen, Würzburg-Skizzen, Würzburg-Entwürfen und Würzburg-Fragmenten.
Nun war Dürrnagel, 72, Postbeamter aus Leidenschaft, die Liebe zur archivalischen Kostbarkeit wird einem da doch vermutlich nicht ins Postauto gesungen. Woher kommt's also? Das Ganze hing mit seinem Einzug in den Stadtrat zusammen, erzählt Dürrnagel. Das war 1972, er war der jüngste Stadtrat Würzburgs, versteht sich. Der Maler und Denkmalpfleger Heiner Reitberger suchte zu der Zeit einen Ansprechpartner im Stadtrat, er fand ihn in Dürrnagel. Gemeinsam gründete man den Initiativkreis zur Erhaltung historischer Denkmäler in Würzburg, Dürrnagel war dessen erster Vorsitzender (und ist es bis heute). So war die Lunte gelegt. Dürrnagel ist seither nicht nur der Mann, der Antiquare glücklich macht - Originalausgaben, darunter viel von Max Dauthendey, und alle anderen Werke in seiner Wohnung schätzt er auf einen Wert von "einer halben Millionen Euro oder vielleicht auch einer ganzen". Dürrnagel schwang sich auch auf zu einer ikonenhaften Figur der Stadtpolitik. "Jeden zweiten" der 130 000 Würzburger kenne er persönlich, schätzt er, das brächten vier Dutzend Jahre im Stadtrat und das Vereinsleben eben so mit sich. Andersrum darf man davon ausgehen, dass kaum ein erwachsener Würzburger nichts mit dem Namen Dürrnagel anfangen kann. Wenn irgendwo irgendwas abgerissen oder verschandelt werden soll in dieser barockschönen Stadt - dann steht Dürrnagel auf den Barrikaden. Wenn's sein muss auch gegen die eigene Fraktion.
Womit man bei einer weiteren Zahl aus dem Dürrnagel-Universum wäre, einer, die ihn durchaus zum bayerischen Kommunalpolitiker schlechthin machen könnte: In seiner Stadtratslaufbahn bekannte sich Dürrnagel bislang zu insgesamt fünf politischen Heimaten. Er fing an als Sozialdemokrat. Wurde dann Vorsitzender der Freien Wählergemeinschaft. Danach Vorsitzender der Unabhängigen Bürger Würzburg. Anschließend Stadtrat der Christlich Sozialen Union. Und inzwischen ist Dürrnagel Mitglied der Würzburger Liste, für die er 2020 für eine weitere Amtszeit als Stadtrat kandidiert. Hauptanlass für die Zwistigkeiten mit der CSU waren konträre Ansichten über Fragen des Denkmalschutzes. Er habe niemals in seinem Leben Bürgermeister oder gar OB werden wollen, sagt Dürrnagel. Eines aber habe er immer gewollt: seine "Meinung sagen dürfen", notfalls auch gegen den Fraktionsmainstream.
Den Leuten gefällt das. Dürrnagel dürfte gute Chancen haben, als Stimmenkönig in den nächsten Stadtrat einzuziehen. Als sich kürzlich die Stadtrats-CSU mit ihm überwarf, fühlten gleich eine Handvoll anderer Politgruppierungen bei Dürrnagel vor: Ob er nicht vielleicht bei ihnen anheuern wolle? Nach so vielen Fraktionswechseln würde manchem das Querulanten-Stigma anhaften. Dürrnagel dagegen ist eine Art lebendes Würzburger Wahrzeichen.
Inzwischen hat Margarete Dürrnagel das Haus für ihren Termin verlassen, es wäre wunderbar, hat sie beim Hinausgehen hinterlegt, wenn ihr Mann und sie es erleben dürften, dass sich einer der Sammlung Dürrnagel annähme. Am liebsten die Stadt natürlich, die freilich alles der Bevölkerung zugänglich machen und die Sammlung bitte nicht auseinanderreißen sollte.
Willi Dürrnagel darf jetzt mit Hingabe durchs Haus führen, durchs ganze Haus. Dass sich viele nur mit Sturzhelm an den sich krümmenden Kartons im Hausgang entlang trauen, dürfte ein halber Witz sein; dass ein Statiker eine Unbedenklichkeitserklärung abgegeben hat, hoffentlich nicht. Zuletzt wird noch ein "kurzer Blick" ins Bad der Dürrnagels gewährt. Rechts das Waschbecken. Links die Wanne. Dazwischen eine Kartonwand mit Archivalien.