Sebastian hatte sich so auf den Ausflug mit seinem Vater gefreut. Der Junge, neun Jahre alt war er, durfte wieder hinten auf dem Motorrad sitzen, sie fuhren zuerst zu McDonald's und wollten dann weiter auf den Fußballplatz. Dort aber sind sie nicht angekommen. Maria Fischer, die Mutter, war mit dem jüngeren Sohn zu Hause an diesem Septemberfreitag vor sechs Jahren.
Als es dann klingelte am Abend, standen Polizisten in der Haustür. Mann und Sohn hatten einen Unfall mit dem Motorrad gehabt. Sebastian lag schwer verletzt im Krankenhaus, der Mann, 38, war noch am Unfallort verstorben. Ein paar Meter entfernt vom McDonald's war es passiert, am Ingolstädter Nordbahnhof.
An diesem Abend, als die Welt der Familie Fischer (Namen geändert) aus einem kleinen Ort bei Ingolstadt auseinanderbrach, begann eine Zeit des Wartens. Warten darauf, dass neben all dem Schrecken, den der Tod des Ehemanns und Vaters bedeutet, zumindest das Finanzielle rasch geregelt wird. Schuld an dem Unfall war eindeutig ein Autofahrer, der bei der Generali versichert ist.
Doch die Hoffnung auf eine rasche Regelung erfüllte sich nicht. Seit Jahren streitet Maria Fischer, 43, vor Gericht, kürzlich hat Generali auch gegen das zweite Urteil des Landgerichts Ingolstadt Berufung eingelegt.
Die Versicherung kämpft um jeden Euro, und so wartet Frau Fischer noch immer, sechs Jahr nach dem Tod ihres Mannes, darauf, zumindest dieses Kapitel abschließen zu können. Begleitet wird das Ringen um finanzielle Gerechtigkeit von einem bizarren Streit zwischen zwei Gerichten.
Maria Fischer sagt: "Ich fühle mich, wie wenn es mich innerlich zerreißt." Es geht um scheinbar hohe Summen, mehrere hunderttausend Euro Unterhalt, allerdings über mehrere Jahrzehnte. Herunter gerechnet auf jeden Monat sind es nur ein paar hundert Euro, die Frau und Kinder brauchen, weil der Hauptverdiener nicht mehr lebt. Er war Sachbearbeiter bei Audi und hat gut verdient.
Eine außergerichtliche Einigung zwischen Fischer und der Versicherung über Schmerzensgeld und Unterhaltszahlungen scheitert, zweieinhalb Jahre nach dem Unfall ergeht das erste Urteil des Landgerichts Ingolstadt.
Obwohl der Richter erhebliche Abstriche bei den Forderungen der Familie macht, ist Maria Fischer froh: "Dann wäre es endlich vorbei gewesen." Wäre. Generali akzeptiert das Urteil nicht, legt Berufung ein, bestreitet psychische Schäden und Beeinträchtigungen der beiden Söhne.
Die Versicherung hat Erfolg: Ein Jahr nach dem ersten Urteil kassiert das OLG München die Entscheidung. Es stellt "mehrere erhebliche Verfahrensmängel" fest, rügt "die (nahezu völlig) fehlende oder erheblich fehlerhafte Beweiswürdigung" des Ingolstädter Richters. Das Verfahren wird zurückverwiesen ans Landgericht Ingolstadt, und landet dort wieder bei jenem Richter, den die Ober-Richter so abgewatscht haben.
Es dauert zwei weitere Jahre, ehe der Richter am Landgericht ein neues Urteil verkündet. Mittlerweile liegen zwei ärztliche Gutachten vor. Die vom Gericht beauftragte Kinder- und Jugendpsychiaterin konstatiert bei beiden Kindern, heute 15 und zwölf Jahre alt, schwere psychische Belastungen und Schäden durch den Unfalltod des Vaters; vor allem bei Sebastian, der eine besonders enge Bindung zum Vater hatte und beim Unfall hinter ihm auf der Maschine saß.
Die Generali akzeptiert diese eindeutigen Aussagen nicht und beauftragt ihrerseits einen Psychiater, das Gutachten zu begutachten. Der bewertet Aussagen im Erstgutachten als "nicht nachzuvollziehen und unbegründet, teilweise widersprüchlich" und kommt zum Schluss: "Das Gutachten ist zur Aufklärung des Sachverhalts nicht verwertbar." Mit den beiden Kindern hat der Gutachter des Gutachtens nicht gesprochen.
Das Landgericht Ingolstadt urteilt im Februar 2012 ein zweites Mal. Bemerkenswert sind die Formulierungen, mit denen der Richter sich gegen die vernichtende Schelte des OLG wehrt. Zum Beispiel beim "Kleiderschaden", der dem älteren Sohn durch den Sturz vom Motorrad entstanden ist - auch um solche Kleinigkeiten streiten sich die Parteien und Gerichte. Der Ingolstädter Richter hatte 100 Euro geschätzt, die Münchner Richter haben die fehlende Beweiserhebung gerügt.
Der so Kritisierte echauffiert sich wiederum über die Schelte der OLG-Kollegen "in gewohnt schulmeisterlicher und herablassender Art" und empfiehlt ihnen, als Ersatz für eine Beweisführung, den "Gang in ein Bekleidungsgeschäft".
Wieder spricht der Ingolstädter Richter dem älteren Sohn 5000 Euro Schmerzensgeld zu, dem jüngeren 3000, und stellt fest: "Nur unter Zugrundelegung eines hohen Maßes an Zynismus und Fehlens entsprechender Lebenserfahrung sowie Einfühlungsvermögens kann der gravierende Einfluss des Vaters auf das Heranwachsen von zwei kleinen Kindern mit Nichtwissen oder Unwissen bestritten werden."
Beim zweiten Ingolstädter Urteil kommt am Ende finanziell fast dasselbe heraus wie beim ersten. Maria Fischer wird ein Unterhaltsanspruch von rund 650 Euro monatlich zugesprochen, den Kindern je 500. Das Unternehmen legt erneut Berufung ein, weil der Richter angeblich falsch gerechnet habe.
Ein Generali-Sprecher betont auf SZ-Anfrage, dass man aber das Schmerzensgeld inzwischen überwiesen habe, dass man seit dem Unfall bereits Unterhalt leiste, dass man auch Behandlungs- und Fahrtkosten akzeptiert habe. "Wir bedauern die Situation, in der sich Frau Fischer und ihre Kinder befinden", schreibt der Sprecher. "Allerdings sind wir dazu gezwungen, auch im Sinne der Versichertengemeinschaft, die gemeinsam für die Schäden anderer aufkommt, Gerichtsurteile zu prüfen bzw. bei Unstimmigkeiten zu beanstanden."
Vor kurzem hat sich der Unfalltod ihres Mannes zum sechsten Mal gejährt. Maria Fischer ist ratlos. "Ich will doch bloß Gerechtigkeit", sagt sie. Demnächst werden die Münchner OLG-Richter wieder über ihren Kollegen aus Ingolstadt zu Gericht sitzen, der ihnen gerade erst via Urteil die Meinung gesagt hat. Man kann sich bessere Voraussetzungen für ein baldiges Ende des Rechtsstreits vorstellen.
Maria Fischers Schmerz um den Tod ihres Mannes wird überlagert von einem Gefeilsche um jeden Euro. Es raubt ihr viel Kraft, die sie bräuchte, um sich noch intensiver um ihre Kinder zu kümmern.
Statt dessen geschieht das Gegenteil, wie die Gerichtsgutachterin betonte: Die Mutter belaste der Rechtsstreit sehr, es komme immer wieder zu "Retraumatisierungen", unter denen auch die Kinder immer wieder aufs Neue litten. "Manchmal", sagt Maria Fischer, "bin ich einfach nur traurig."