Süddeutsche Zeitung

Wirtshaussterben:"Wo Bier ausgeschenkt wird, kommen Menschen sich näher"

Lesezeit: 6 min

Was wäre eine Welt, in der es keine Wirtshäuser mehr gäbe? Wie ein Gasthaus in Oberbayern nach zehn Jahren der Schließung endlich wieder leuchtet und was sich von seinen Betreibern lernen lässt.

Von Franz Kotteder

Bei uns wird nicht gestorben!" Florian Spiegelberger klingt am Telefon recht entschieden und fast ein bisschen trotzig, als er hört, worum es geht. Wirtshaussterben? Da sei er der falsche Ansprechpartner. Der "Altenauer Dorfwirt" ist ja eine gut gehende Gaststätte, besonders an den Wochenenden ist der 41-jährige gelernte Hotelfachmann und Koch gut beschäftigt. Da brummt der Laden immer.

Spiegelberger steht dann zusammen mit einer Küchenhilfe am Herd, schiebt den Krustenschweinebraten in den Ofen, brät das Wiener Schnitzel oder lässt den Kaiserschmarrn in der Pfanne karamellisieren. Alles wird frisch gemacht, "ich will ja keine Tüten aufreißen". Und wenn der Anglerverein frischen Saibling vorbeibringt, dann kommt der auch auf die Karte. Währenddessen kümmert sich seine Frau Izabella, 35, um die Gäste. Die Fußballer kommen nach dem Training vorbei und haben Durst, hinten am Stammtisch sitzen die Kartenspieler und bestellen eine neue Runde.

Der "Altenauer Dorfwirt" ist also das Gegenbeispiel zu jener gesellschaftlichen Entwicklung, die derzeit wieder Branchenvertreter und Politiker umtreibt. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) in Bayern etwa will die bayerische Wirtshauskultur von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklären lassen. Zumindest aber wollen Politiker ein 60-Millionen-Euro-Programm zur Erhaltung der Dorfwirtschaften.

Tatsächlich vermissen inzwischen viele einen Ort der Einkehr in ihrer Nähe. Der Satiriker Gerhard Polt, ein großer Freund der Institution Wirtshaus, sagt: "Wo Bier ausgeschenkt wird, kommen Menschen ins Gespräch, kommen sich näher und entwickeln interessante Gedanken." Soziologen sprechen von einem "Dritten Ort" neben dem Zuhause und der Arbeit, an dem Austausch zwischen den unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen möglich sei, an dem beinahe jeder aufgenommen werde und Meinungen aufeinandertreffen könnten. Und zwar, anders als im Internet, persönlich und in der Regel gezügelt durch die segensreiche Wirkung der Grundregeln des Anstands.

Doch diese Orte der Zusammenkunft schwinden. In Deutschland geht die Zahl der Schankwirtschaften seit Jahrzehnten zurück; und das ist ein Trend, der nicht nur die Dörfer erfasst. In Berlin kamen 1905, vor mehr als 100 Jahren also, auf jede Gassenschänke noch 157 Einwohner, heute sind es etwa 4000 pro Kneipe im klassischen Sinne. In Hamburg ging die Zahl der Schankwirtschaften zwischen 2002 und 2012 sogar um mehr als 48 Prozent zurück.

Noch gravierender ist die Lage auf dem Land, von Niedersachsen bis ins tiefste Bayern. Etwa ein Viertel aller Gemeinden, so schätzt man, hat heute keine Gaststätte mehr. 1994 gab es in Deutschland noch um die 70 000 Schankwirtschaften, heute sind es nur noch 30 000. Die Landflucht, ein geändertes Freizeitverhalten, die Konkurrenz durch Vereinsheime und andere Anbieter sowie unattraktive Arbeitszeiten gelten als Hauptgründe.

Altenau ist eigentlich ein klassischer Kandidat fürs Wirtshaussterben: Gerade mal 680 Einwohner zählt das Dorf am Rand der Alpen; Murnau, die nächste Stadt im bayerischen Oberland, ist mit dem Auto nur 20 Minuten entfernt. Mit dem Zug ist man in knapp eineinhalb Stunden in München, stündlich fährt einer. Und tatsächlich war es ja schon einmal so weit, 2002 machte das Wirtshaus dicht und stand zehn Jahre lang leer, bis dann sieben Leute aus dem Dorf fanden, dass das kein Zustand sei.

Sie kamen auf die Idee mit der Genossenschaft. Es gelang ihnen, die örtliche Raiffeisenbank und die große Hacker-Pschorr-Brauerei dazuzuholen. Und das ganze Dorf. Immer wieder samstags trafen sich die Einwohner beim Wirtshaus zum Renovieren, 18 Monate lang. Handwerker fast aller Sparten waren vorhanden, für den Rest holte man sich professionelle Hilfe von Innendesignern, Spezialisten für Gastronomie, und einer Konzeptberaterin. Für den Wirtshaussaal mit 100 Plätzen gründete sich eine weitere Genossenschaft, in der jeder Mitglied werden kann, das war wichtig für die Vereine. Und dann suchte man nach einem neuen Pächter für die Gaststätte. 26 Seiten umfasste die Ausschreibung, das schreckte einige ab, am Anfang auch den jetzigen Wirt. Es trennte aber die Spreu vom Weizen und hielt Abenteurer und Dilettanten davon ab, sich zu bewerben.

Die Personalfrage ist oft entscheidend für das Überleben eines Wirtshauses. Bei Stefan Schreyegg war das der Grund, warum er seinen Gasthof im oberbayerischen Unering an Silvester 2017 zum letzten Mal aufsperrte. Schweren Herzens. "Ich bin im Zimmer über der Wirtsstube geboren worden und im Wirtshaus aufgewachsen", sagt er. Die letzten sechs Jahre führte er das Wirtshaus zusammen mit seiner Frau Tanja.

"Wir haben eigentlich ständig Personal gesucht", sagt er, "meine Töchter haben immer wieder ausgeholfen, neben dem Studium. Als der Koch gekündigt hat, bin ich selber in die Küche. Irgendwann ging das nicht mehr." Immerhin lag es nicht am mangelnden Zuspruch, der Gasthof Schreyegg unweit des Ammersees ist mit seinem Biergarten das ideale Ausflugslokal. Stefan Schreyegg hat inzwischen Pächter gefunden, die das Wirtshaus Mitte April wieder aufmachen: "Das sind vier Leute - ein Koch, eine Küchenhilfe und zwei im Service. Da lässt sich das vom Personal her machen."

Auch bei Franz Karner war das Personal das Hauptproblem. Ende Januar hat er seinen Gasthof Steinweidenhof im Chiemgau, nahe der Grenze zu Tirol, endgültig geschlossen. "Die Arbeitsbelastung war irgendwann zu groß", sagt der frühere Sternekoch, "das ging zuletzt von halb acht in der Frühe bis nachts um 24 Uhr." Das Haus hatte zudem neun Gästezimmer, und als die Gemeinde den Titel "Bergsteigerdorf" erhielt, war das mit zusätzlichen Aufgaben verbunden. "Das bedeutet: Frühstück ab fünf Uhr morgens und ausführliche Infos über Wanderrouten bereithalten."

Nach 35 Jahren in der Gastronomie haben seine Frau und er aufgegeben. "Die Pachten sind heute einfach reine Fantasie geworden", sagt Karner, "dazu kommen noch die immer höheren Auflagen, sei es Lebensmittelkontrolle, sei es Brandschutz." Manchmal grenze das an Schikane. Immerhin muss er sich um die Zukunft keine Sorgen machen. Er, der selbst lange einen Koch für den Steinweidenhof gesucht hatte, weiß ja, was gebraucht wird: "Ich hab' einen guten Job in der Privatwirtschaft gefunden."

Wenn Angela Inselkammer das Stichwort "Personal" hört, denkt sie vor allem an bürokratische Hürden. Die Präsidentin des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands kann trefflich räsonieren über die Dokumentationspflichten, die das Gesetz zum Mindestlohn den Wirten auferlegt, und über die unflexible Arbeitszeitregelung, "die es den Leuten im Service verbietet, auch einmal länger zu arbeiten, selbst wenn sie es unbedingt wollen". In der Tat kann man eine Hochzeitsfeier schlecht für beendet erklären, nur weil die Kellner ihr Arbeitszeitlimit erreicht haben. Andererseits macht es den ohnehin schon unattraktiven Beruf nicht beliebter, wenn völlig unklar wäre, wie lange der Arbeitstag dauert - sagt die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) mit einigem Recht.

Aber es gebe noch einige Stellschrauben mehr, sagt Inselkammer, "und wir suchen ständig nach Lösungen". In der kommenden Woche etwa startet die Bayern Tourist GmbH, eine Tochter des Gaststättenverbands, ihre "Blitzlicht-Beratung" für Wirte, die keine Zukunft mehr sehen für ihren Betrieb. Die Gastronomen können sich über die Homepage www.wirtshauskultur.bayern anmelden, speziell geschulte Mitarbeiter beraten sie dann anhand eines Leitfadens in zwei- bis dreistündigen Gesprächen kostenfrei.

Das Land Bayern lässt sich das gut eine halbe Million Euro kosten. "Es geht darum, Schwachstellen auszuloten", sagt die Geschäftsführerin Isabella Hren, "wir wollen neue Ideen, neue Konzepte anregen und Tipps geben, wie man als Wirt sonst noch Geld verdienen kann." Mit dem Ausschank von Bier allein könne man heute nicht mehr überleben.

Auch Florian und Izabella Spiegelberger leben nicht allein von den 60 Plätzen im Wirtshaus, selbst wenn man die draußen im Garten dazuzählt. Es gibt sechs Gästezimmer im ersten Stock, alle individuell eingerichtet vom Dorfschreiner. Von der Wand im Treppenhaus grüßt Dörte, ein norddeutsches Fleckvieh vom Nachbarn. Eine Künstlerin aus dem Dorf hat sie im fotorealistischen Stil gemalt.

"Seit wir auch bei Buchungsplattformen im Internet vertreten sind", sagt Izabella Spiegelberger, "sind die Zimmer gut gefragt." Obendrein liegt der Gasthof günstig an einem bundesweit bekannten Meditationsweg und dem Radwanderweg zwischen Bodensee und Königssee. Zum Schloss Neuschwanstein braucht man etwa eine Dreiviertelstunde mit dem Auto. "Für amerikanische Gäste ist das durchaus interessant", sagt Florian Spiegelberger. Und Oberammergau, das ebenfalls nicht weit weg ist, würden die sowieso kennen.

Eine weitere Einnahmequelle ist der Saal des Wirtshauses, dort probt gerade die örtliche Bauernbühne ihr neues Stück. "Die hat 15 Jahre pausiert", erzählt Spiegelberger, "seit es uns wieder gibt, spielen die wieder. Auch schön!" Die 16 Vereine des Ortes treffen sich hier und feiern viele ihrer Feste - etwas, das sonst immer seltener wird, weil Vereine oft in eigener Regie gleich ganze Festwochen veranstalten, in der Regel ohne die vielen Auflagen von Gewerbeaufsicht bis Gesundheitsamt, die Wirten das Leben erschweren. Die Ehrenamtlichen füllen damit oft die leere Vereinskasse. Die Gaststättenverbände beklagen diese "Schwarzgastronomie", wie sie es nennen, seit vielen Jahren erfolglos. Aber Bürgermeister und Abgeordnete wollen es sich mit ihren örtlichen Institutionen natürlich nicht verscherzen.

Die Spiegelbergers nutzen den Saal aber auch anderweitig, etwa für Kabarett und Comedy. Da sind dann bayerische Lokalmatadoren wie Franziska Wanninger ebenso zu Gast wie der Berliner Stefan Danziger. Jeden ersten Donnerstag im Monat gibt es einen Musikantenstammtisch, für die Kundenbindung sorgen Sweater und T-Shirts mit dem Dorfwirtlogo, man kann Biergutscheine erwerben, auf die es nach der zehnten Halben zwei weitere gratis gibt. "Man muss sich eben immer wieder was einfallen lassen", sagt Florian Spiegelberger, "dann geht schon was."

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Quelle:
SZ vom 31.03.2018
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