Wirtshaus:Berühmter als das Münchner Kindl

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1881 saß Coletta Möritz einem Maler Modell: Geboren war die Schützenliesl. (Foto: Johannes Simon)

Sie betrieb Wirtshäuser, ein Wiesnzelt, bekam nebenbei 12 Kinder. Die Schützenliesl war der Prototyp der tüchtigen bayerischen Kellnerin und Wirtin - und eine moderne Frau.

Von Mirjam Uhrich, Aldersbach

Mit wehenden Zöpfen balanciert die Schützenliesl auf dem Fass. Ganz lässig, mit einem knappen Dutzend schäumenden Bierkrügen in den Händen, Radi unterm Schürzenlatz und verschmitztem Grinsen. "Sie war scho a scheene Frau und so tüchtig", sagt Ottilie Rigl und streicht mit dem Daumen über das Motiv auf dem Bierkrug. Die Bäuerin mit den grauen Locken hütet den Krug wie einen Schatz tief im Holzschrank, dick eingepackt mit Zeitungspapier. "Der Bierkrug hat der Schützenliesl höchstpersönlich gehört", erzählt sie, ihrer Großtante.

Ganz in der Nähe von Rigls Bauernhof ist die Schützenliesl aufgewachsen, in einem kleinen Dorf bei Pöttmes. "Eigentlich wollte die Tant' Handarbeitslehrerin werden, aber dafür hat das Geld ned glangt. Mit 16 Jahren hat sie als Biermadl angefangen, beim Sternecker-Bräu im Tal", sagt die 87-Jährige. Dort war der Maler Friedrich August von Kaulbach Stammgast. Er überredete die junge Kellnerin, ihm Modell zu stehen. Das fünf Meter große, für den damaligen Geschmack ziemlich obszöne Ölgemälde stellte er im Juli 1881 beim Deutschen Bundesschießen auf der Theresienwiese aus.

Ottilie Rigl ist die Großnichte der Schützenliesl. Die 87-Jährige sammelt Erinnerungsstücke an die berühmte Verwandte. (Foto: Johannes Simon)

Die balancierende Kellnerin wurde "zum Blick- und Angelpunkt einer Wallfahrt, die nun täglich ins Bierzelt zur Schützenliesl einsetzte. Greise, honorige Familienväter zog es hinaus auf die Wiesn", berichteten damals die Münchner Nachrichten. Allein am letzten Festtag sollen 16 300 Mass Bier getrunken worden sein.

Und so wurde aus dem unehelichen Biermadl Coletta Möritz die weltbekannte Schützenliesl, ein Symbol für die Münchner Kellnerinnen. "Manche sagen, die Schützenliesl ist bekannter als das Münchner Kindl", sagt Ottilie Rigl. Sie kann den Stolz in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Die Schützenliesl: Hübsch, rösch, selbstständig

Ihr holzgetäfeltes Bauernzimmer quillt über mit Erinnerungsstücken an die Großtante. Ein abgewetztes Paar Stiefel, zwei Bierkrüge und vergilbte Briefe. "Ich liess . . . damals eine hübsche, rösche Münchner Kellnerin suchen, welche selbstständig unser Bürgerbräubier in der Kosthalle ausschenken und verkaufen konnte", schrieb beispielsweise der Wirt Georg Probst der Schützenliesl. "Sie mussten also jedes Fassl in dem kleinen Raum selbst anzapfen, das Bier in Quartgläser einschenken, kassieren und verabreichen."

17, 18 Stunden mussten die Kellnerinnen zapfen, bedienen und putzen. Das Trinkgeld war der Lohn, dazu gab es aufgewärmte Essensreste nach Schichtende und ein Bett, das sich die Kellnerinnen oft geteilt haben. Salz, Pfeffer, Streichhölzer und Zahnstocher mussten sie aus ihrem Geldbeutel bezahlen, manchmal auch ein Zeitungsabonnement.

Kaum eine Bedienung war weiblich, die Kellnerin ein bayerischer Sonderfall

Wer sich beschwert hat, wurde rausgeschmissen. Es gab keinen schriftlichen Vertrag, keinen Kündigungsschutz. Die Arbeit war Ausbeutung, aber gleichzeitig die Chance auf Unabhängigkeit. Als Magd, Wassermädchen oder Kellnerin konnten Frauen eigenes Geld verdienen. Um 1900 waren 64 Prozent der Bedienungen in Bayern rechts des Rheins weiblich, in Bayern links des Rheins waren es 74,8 Prozent.

In nördlichen Städten wie Lübeck oder Bremen gab es gar keine Kellnerinnen, heißt es in einer Dissertation von 1907. "Die Kellnerin ist ein bayerischer Sonderfall, ein südliches Spezifikum", sagt Beatrix Beneder, die zum Thema geforscht hat. "Im restlichen deutschsprachigen Raum waren Frauen im Wirtshaus eher zum Animieren da." Das Wirtshaus war ein Männerort, die Atmosphäre grob und sexuell aufgeladen.

Kellnerinnen müssten "ihren Körper zu Markte tragen", schrieb Arthur Cohen in seinem Werk "Die Lohn und Arbeitsverhältnisse der Münchener Kellnerinnen" von 1892. Die "Gefahr für die geschlechtliche Unbescholtenheit der Kellnerinnen" sei groß, man könne "mit fast unfehlbarer Sicherheit behaupten", dass "keine auf die Dauer ihre Jungfräulichkeit bewahren kann". Als Frau ziemte es sich deshalb nicht, ins Wirtshaus zu gehen.

Mit einem Flugblatt versuchte sich der Münchner Kellnerinnenverein damals zu wehren: "Kolleginnen! Unsere männlichen Kollegen . . . berufen sich auf die niedere soziale Stellung der Kellnerin und behaupten, die Kellnerinnen seien nur dazu da, die Gäste zu animieren. Kolleginnen! . . . Wir stehen auf gleicher Stufe mit unseren männlichen Kollegen. Unsere Arbeit ist gerade so ehrenhaft."

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Doch erst in den Fünfzigerjahren hat sich die Stimmung im Wirtshaus verändert. "In der Nachkriegszeit wurde das Wirtshaus von einem politischen Ort zu einem gemütlichen. Tischdecken wurden rausgeholt, ein Fernsehapparat wurde aufgestellt. Dieses Behübschen und Belieben passt natürlich zur Rolle der Frau", erklärt Sozialwissenschaftlerin Beneder.

Fast alle Bedienungen im Wirtshaus sind heutzutage Frauen, oft Studentinnen. Ihre Schicht dauert höchstens acht Stunden, im Aufnahmefall zehn. Dafür bekommen sie Mindestlohn, dazu noch Trinkgeld. "Der Ruf der Kellnerin ist nicht schlecht. Vielleicht ist ihre Arbeit sogar anerkannter als ein Bürojob, weil die Leute sehen können, was sie schafft", sagt Julia Hager.

Das Wirtshausleben ist ein Prozess, es ist ständig im Wandel

Seit ein paar Jahren kann die Wirtin aus dem Landkreis Dingolfing-Landau beobachten, wie sich die Geschlechterverhältnisse ändern. Inzwischen bewerben sich bei ihr wieder junge Männer als Kellner, bis vor Kurzem noch unvorstellbar. Auch der Stammtisch löst sich langsam auf, dafür kommen Paare und Familien. "Die Gäste sind überhaupt nicht zudringlich, im Gegenteil. Sie sind sehr respektvoll und charmant", erzählt Julia Hager. "Klar wird mal nett geschäkert, aber das beruht dann auf Gegenseitigkeit."

Für die 31-Jährige ist ihre Arbeit selbstverständlich, auch ihre Mutter und Großmutter waren Wirtinnen. Der Landgasthof Hager ist als "drei Madl-Haus" bekannt. "Bei uns auf dem Land ist eine Wirtin trotzdem die Ausnahme. Es gibt zwar viele Familienbetriebe, aber das Sagen hat am Schluss der Mann." Kolleginnen hat Hager nach wie vor nur wenige.

Der Prototyp der Kellnerinnen fällt aus dem Rahmen

Dabei war schon die Schützenliesl Wirtin. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie verschiedene Münchner Wirtshäuser gepachtet, darunter das "Bürgerliche Bräuhaus" an der Rosenheimer Straße und das "Elysium" in Sendling. Auch auf dem Oktoberfest war sie Wirtin. Fast schon nebenbei brachte sie zwölf Kinder auf die Welt. In der Familie hält sich das Gerücht, dass einige Kinder direkt neben der Theke geboren worden seien.

Nach dem Tod ihres Mannes führte die Schützenliesl "Die Rosenau" in Schwabing alleine weiter. Das Wirtshaus war bis zuletzt ihr Leben. Im November 1953 starb sie mit 93 Jahren. "Für die damalige Zeit war die Tant' schon sehr emanzipiert", sagt Ottilie Rigl. "Eigentlich war sie gar nicht der typische Liesltyp."

Von ihrer Zeit als Biermadl-Model hat sie trotzdem immer wieder erzählt, bei ihren Familienbesuchen in den Sommerferien. Ottilie Rigl und ihre Schwester saßen dann auf einem kleinen Schemel zu den Füßen der Schützenliesl, "wie zwei Glucken". Wenn sie darüber redet, leuchten ihre Augen heute noch. "Das Bild hat der Tant' schon gefallen, sie hat oft davon gesprochen. Da war's stolz drauf."

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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