Wirtschaft in Bayern:Im Zentrum des Booms: Willkommen in Lohr!

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Mit seinen Fachwerkhäusern im fränkischen Stil und der Legende, dass Lohr der Geburtsort von Schneewittchen sei, hat die Stadt im Spessart auch touristisch etwas zu bieten. (Foto: Patrick Eichler/mauritius images)

Einst war die Gegend arm, heute gibt es im unterfränkischen Landkreis Main-Spessart kaum mehr Arbeitslose, viele offene Stellen, und demnächst eröffnet sogar ein Start-up-Zentrum. Ein Besuch in der Provinz.

Von Joachim Käppner, Lohr

Und dann will einen plötzlich niemand mehr. Volker Grünewald war Berufskraftfahrer, er hat Oberarme, die so stark sind wie bei anderen die Oberschenkel, und seine großen Hände sind geschickt; zu Hause baue er Schiffsmodelle, sagt er. Grünewald, der in Wirklichkeit anders heißt, ist erst 34 Jahre alt und sieht doch keine beruflichen Chancen für sich, auch nicht an dem nebligen, regnerischen Tag, an dem er im Jobcenter Lohr vorspricht. Die Ärzte haben einen Tumor in seinem Kopf gefunden, zu tief, um zu operieren. Sein Gesichtsfeld ist eingeschränkt, kein Gedanke, dass er wieder Busse oder Laster fährt. Und das ist nicht das Einzige. Neurodermitis, Diabetes, der ärztliche Befund, den die Beraterin vorliest, scheint nicht enden zu wollen, vor allem da nicht, wo er auflistet, was Volker Grünewald alles nicht mehr tun darf.

Selber zur Arbeit fahren zum Beispiel. Ein sehr großes Problem, die Busverbindungen sind spärlich auf dem weiten Land. Nicht mal einen Gabelstapler dürfte er steuern. Nichts geht, wofür er räumliches Sehen benötigt. Er darf nicht auf Kränen arbeiten, nicht mit Starkstrom, nicht schwer heben, nicht löten. Schichtarbeit nicht zulässig. "Warum darf ich nicht löten?", fragt er, "ich löte doch sogar winzige Platinen für meine Schiffsmodelle." Die Beraterin weiß es nicht, so haben es die Ärzte formuliert. Der schwere Mann hat trotz allem seinen fränkischen Humor nicht verloren, aber jetzt sagt er: "Ich bin ratlos."

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In vielen Gegenden Deutschlands wäre das nun das triste Ende der Geschichte von einem, der noch einmal aufzustehen versucht. Menschen wie Grünewald gelten als schwer bis gar nicht vermittelbar am Arbeitsmarkt. Aber die Beraterin geht noch einmal alles mit ihm durch: Unterlagen, die er noch bringen muss, Fähigkeiten, die er noch angeben könnte. Und sie sagt: "Wir schauen einfach einmal."

Lohr liegt im Landkreis Main-Spessart und behauptet gern von sich, die Heimatstadt von Schneewittchen zu sein. Passend wäre es. Die Region ist tiefe Provinz, im besten Sinne. Viel Natur, Weinberge, Burgruinen, Fachwerkstädtchen, die vom Krieg und von Verschandelung fast märchenhaft verschont geblieben sind. Charme der Bescheidenheit. Man sieht der Gegend kaum an, dass sie zu den Rekordhaltern auf dem Arbeitsmarkt gehört. Der Landkreis Main-Spessart hat eine Arbeitslosenquote von 1,6 Prozent, das ist der viertniedrigste Wert in ganz Bayern, die Beschäftigungsrate ist seit 2007 um zwölf Prozent gestiegen.

14 000 Arbeitsplätze für 16 000 Menschen

Dabei gehörte dieses Land einst zu den Armenhäusern Deutschlands. 1852 bereiste der Pathologe Rudolf Virchow die Dörfer im Wald, in seinem Bericht "Die Not im Spessart" heißt es: "Die meist sehr schmutzigen ... Betten stehen in geringer Zahl sowohl im Zimmer selbst als auch in dem oft dunkeln und dumpfen Kämmerchen, so dass es gewöhnlich ist, wenn zwei bis drei Personen, selbst von verschiedenen Geschlechtern, in demselben Bette schlafen." Noch nach 1945 waren Knechte, Schweinstreiber, Holzhacker im Alltag vertraute Berufe. Und heute? Sagt Stefan Beil, Leiter der Würzburger Agentur für Arbeit: "Früher hat ein Bewerber bei der Firma damit geworben, was er alles kann. Heute wirbt der Arbeitgeber hier damit, was er alles bietet: Home-Office, Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten." Manche Unternehmen haben sogar Abhol- und Bringdienste für Beschäftigte ohne Auto eingerichtet.

Der Landkreis ist mit seiner fast kompletten Vollbeschäftigung eine Art Mikrokosmos des deutschen Wirtschaftsbooms. Während anderswo die Klage der Gruß des Kommunalpolitikers ist, sagt Lohrs Bürgermeister Mario Paul: "Es geht uns wirklich gut." Paul steht den Grünen nahe und hat 2014 einen CSU-Mann aus dem Amt gefegt, so modern sind auch hier die Zeiten schon. Er residiert im Neuen Rathaus und schaut auf eine hübsche Stadt mit vielen Geschäften und einer hochmodernen Stadthalle, in der große Orchester Gastspiele geben. Das schöne Spessartmuseum im Schloss lädt zu einer Reise in die Vergangenheit ein. Wer von der Festungsmauer hinunterblickt, sieht dagegen die Gegenwart und, wie man in Lohr hofft, auch die Zukunft: Die riesenhafte Fabrik von Bosch Rexroth ist einer der größten Arbeitgeber der Region. Lohr hat 16 000 Einwohner und 14 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.

Aber keinen für Volker Grünewald, wie es aussieht. "Ich suche eine Perspektive", sagt er im Beratungsgespräch, "ich muss doch noch 30 Jahre lang arbeiten." Der Tumor wachse nicht mehr, haben die Ärzte festgestellt, das gibt ihm Hoffnung. Aber wofür? Die Beraterin empfiehlt eine Umschulung, den Besuch von Berufsförderungswochen. Grünewald seufzt, aber: "Ich habe einen Vorteil. Ich kann warten."

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Der Region mag es gut gehen, sehr gut sogar, doch das muss nicht so bleiben. Die befürchtete Konjunktureintrübung in Deutschland ist da noch ein kleines Problem, verglichen mit dem demografischen Wandel. Die Region verliert Einwohner an die Städte, sie altert, ihr Freizeitangebot für Jüngere ist überschaubar - wie jeder bestätigen wird, der sich im schönen Lohr mehr für Clubbing als für Weinstuben und Schneewittchen interessiert - und die Erwartungshaltung der Jugend hat sich verändert. "Sehr viele sagen: Wir wollen etwas mit Menschen machen oder mit Medien", so Agenturchef Beil.

Um Schritt zu halten, will Bürgermeister Paul dieses Frühjahr in Lohr ein Start-up-Zentrum eröffnen. Aber noch ist dies ein traditionsreicher Arbeitsmarkt, geprägt von Industrie und Qualitätsprodukten made in Germany, Fein- und Spezialmechanik. Geisteswissenschaftler braucht hier kaum jemand, Ungelernte auch nicht. Gesucht, und zwar dringend, werden Facharbeiter. "Ein ausgebildeter Handwerker findet hier sofort einen Job", sagt Sonja Keller, Agenturberaterin und Vizefilialleiterin in Lohr, "die sind dankbar für jeden, der kommt."

Zum Beispiel die Firma Hunger Hydraulik, 130 Mitarbeiter, fünf offene Stellen. Personaler Helmut Dietrich sagt schlicht: "Wir haben es schwer, Fachkräfte zu finden." Gerade habe die Konkurrenz im Landkreis ihnen zwei Auszubildende abgeworben, "die waren schon weg, bevor die letzte Prüfung abgeschlossen war", so Dietrich. Sogar Kopfprämien soll es für die geglückte Anwerbung einer Fachkraft in manchen Firmen geben.

Das Lohrer Unternehmen Hunger baut zyklopische Hydraulikzylinder, wie man sie beim Brückenbau, für Kraftwerke und Offshore-Anlagen benötigt. Nur: Solche Spezialprodukte sind nicht mal so eben herstellbar. Mit Arbeitskräften, sagt Dietrich, wie sie die Zeitarbeitsfirmen reichlich schicken, "sind wir oft auf die Nase gefallen, dann kommt einer und hat die Schweißnähte für die großen Rohre vermurkst". So etwas können nur Experten, am besten solche, die der Betrieb selbst ausgebildet hat.

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Und der Bedarf wird wachsen, sollte der Arbeitsmarkt auch nur annähernd so weiterblühen. 1200 offene Stellen hat der Landkreis schon. Jeder hier weiß, dass zu den Lösungen auch Migranten gehören, so viel "Mühe all das Drumherum mit den Ämtern auch macht", so Personaler Dietrich, und so sehr die politische Debatte darüber die ökonomische überschattet.

Seine Firma will jetzt zwei Afghanen übernehmen, die schon seit drei Jahren hier lernen. Bürgermeister Paul setzt sich für einen jungen Afghanen ein, sagt er, "der hier tolle Perspektiven hätte, aber es droht die Abschiebung. Und ich kenne Dutzende solcher Beispiele." Stefan Beil sagt schlicht: "Niemand hier muss Angst haben, dass Zuwanderung von außen der einheimischen Bevölkerung Jobchancen nimmt. Aber wir brauchen diese Fachkräfte."

In der Lohrer Arbeitsagentur wird die Beraterin von Volker Grünewald tatsächlich fündig, es hat nur ein wenig gedauert. Da sei eine Stelle, ohne Schichtarbeit, als Lagerhelfer in der Nachbarstadt, mit dem Bus leicht erreichbar. "Das wäre doch etwas bis zum Beginn der Umschulung", sagt sie. Grünewald hört aufmerksam zu, als sie ihm erklärt, wie er sich am besten bewirbt. Er nickt, es ist ein Hoffnungsschimmer und vielleicht ein neuer Anfang.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir das Unternehmen Bosch Rexroth fälschlicherweise Bosch-Rexrodt geschrieben.

© SZ vom 04.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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