Wippstetten:Das Erbe der Leyrsederin

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Die Wiener Musiker Hermann Fritz, Hermann Haertel und Simon Wascher (von links) vertonten in der Klause in Wippstetten die Originalnoten von 1761, die für heutige Ohren mitunter durchaus schräg klingen. (Foto: Katharina Schmid)

In einem alten Anwesen wurden 250 Jahre alte Tanzmusiknoten entdeckt. Wiener Musiker haben die ungewöhnlichen Melodien am Fundort erklingen lassen

Von Katharina Schmid, Wippstetten

Einmal im Jahr verwandelt sich die Klause, das winzige Dorfwirtshaus im Schatten der Wallfahrtskirche von Wippstetten, in eine musikalische Experimentierstube. Drei Musiker aus Wien kommen dann auf den Kröning, so werden die Hügel zwischen Isar und Vils genannt. Im Gepäck haben sie Geigen, eine Drehleier, Kontra und Basolie, zwei wenig bekannte Streichinstrumente aus Osteuropa, und die Notenschrift einer Frau, die den Namen Anna Maria Leyrseder trug und einst Bäuerin zu Koblpoint war, einem Einödhof wenige hundert Meter östlich des im Landkreis Landshut gelegenen Ortes.

Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Gläubigen noch in Scharen in den damals bedeutsamen Wallfahrtsort Wippstetten pilgerten, soll die Leyrsederin, wie sie von den Volksmusikanten genannt wird, Mesnerin und Kirchenmusikerin in der Wallfahrtskirche Mariae Geburt gewesen sein. Viel mehr ist nicht bekannt über diese Frau. Verwitwet war sie, zwei Töchter hatte sie und der Welt hat sie einen musikalischen Schatz hinterlassen, von dessen Existenz lange niemand wusste. Erst Ende der 1980er-Jahre, beim Abriss eines Hauses auf dem Nachbargehöft, kamen ein Stapel Kirchenmusik und zwei dünne Stimmheftchen mit Tanzmusik, 60 "Tyroller und Salzburger Däntz", zum Vorschein. Bis auf die abgenagte Ecke oben rechts, an der wohl ein paar Mäuse zugange waren, sind die Noten gut erhalten. Sie gelten als älteste Handschrift instrumentaler Gebrauchsmusik, die in Niederbayern je gefunden wurde.

Fast vergessen lägen diese Zeugnisse früher bayerischer Volksmusik im Archiv, wären da nicht die drei Musikanten aus Österreich, neugierig und experimentierfreudig, die dieser alten Tanzmusik trotz ihres in den Ohren heutiger Volksmusikanten schrägen Klangs eine Chance geben. Seit sieben Jahren kommt das "Reisende Archiv" für ein Wochenende im Herbst nach Wippstetten, um anderen Musikern die Stücke der Leyrsederin nahezubringen. Rund 250 Jahre nachdem die Bäuerin die Tänze aufgeschrieben hat, erklingen die Melodien wieder an dem Ort, an dem sie einst gelebt hat. Und genau wie damals bringt ihre Musik auch heute die Leut' zamm. So auch am vergangenen Wochenende, als der Workshop des Reisenden Archivs Teilnehmer aus Berlin, Dresden und Innsbruck anlockte. Zwar kamen die Wallfahrer im 18. Jahrhundert nicht von so weit her, doch auch sie dürften schon zur Musik der Leyrsederin getanzt haben. Das vermutet zumindest der Vorsitzende des Volksmusikvereins im Landkreis Landshut, Anton Meier: "Zuerst wurde gebetet, dann wurde getanzt", sagt er. Knechte und Dirnen hätten nicht viel Urlaub gehabt. Hatten sie dann einmal frei zum Wallfahren, musste das auch für weltliche Vergnügungen genutzt werden, glaubt Meier.

Hinter dem Reisenden Archiv stecken Hermann Haertel, Simon Wascher, und Hermann Fritz, freiberufliche Musiker, die in Wien leben. So viele schöne Handschriften lägen in den Archiven, "für Musikanten eine Goldgrube", sagt Wascher, sein silbernes Haar ist zum Pferdeschwanz gebunden. "Aber die Archive sind in den Städten, die Musikanten auf dem Land." Deshalb gehen die drei mit ihren Notenfunden genau dorthin, aufs Land nach Bayern, Südtirol, sogar in Frankreich, Schweden und Polen waren sie schon, um den Volksmusikanten von heute die Tanzmusikhandschriften ihrer Vorgänger nahezubringen. "Vielleicht genügt es manchmal nicht, das zu spielen, was eh jeder spielt", sagt Haertel.

Dass die drei Musikanten heuer schon zum siebten Mal nach Niederbayern kamen, hat neben der Musik noch andere Gründe. Geselligkeit. Freundschaft. Das ganze Wochenende über sind sie auf dem Hof in Koblpoint untergebracht, auf dem Anna Maria Leyrseder einst ihre Noten niedergeschrieben haben dürfte. Sie schlafen, wo sie Platz finden, im Büro, im Wohnwagen, im Zimmer der Tochter. Es wird improvisiert, selbst gekocht, musiziert. Die fünfköpfige Familie Hauer, die den Hof biologisch bewirtschaftet, verbindet mit den Musikern der Wille, das Erbe der Leyrsederin lebendig zu halten. "Für uns ist dieses Wochenende das Event im ganzen Jahr", sagt die 20-jährige Maria, blonde Locken und ein strahlendes Lächeln im Gesicht, sobald sie an diesem Wochenende tanzt. Und das tut sie oft. "Wie Urlaub", schiebt ihre Mutter Andrea hinterher. Und ihr Mann Josef spricht davon, schon ein wenig stolz zu sein auf seine Vorgängerin am Hof und ihr musikalisches Erbe.

Dabei ist nicht geklärt, ob die Handschriften der "Anna Maria Leyrsederin zu Koblpaint Negst Wippstötten, Anno 1761" selbst komponiert sind, oder ob die Bäuerin sie lediglich niedergeschrieben hat. Vieles spreche aber dafür, dass sie Gehörtes zu Papier gebracht habe. "Sie hatte Schwierigkeiten, die Noten aufzuschreiben", sagt Wascher, der die Niederschriften studiert und als Notenbüchlein veröffentlicht hat. Teilweise würden ganze Takte fehlen. Es sei wohl der Versuch gewesen, "orale musikalische Praxis in einer nicht dafür geschaffenen Notation festzuhalten".

Für einige Besucher des Volkstanzabends, den das Reisende Archiv zusammen mit einer lokalen Kapelle immer freitags organisiert, klingt die Musik von 1761, viele Stücke in lydischer Tonart, erst einmal fremd. Das wissen die Musiker. "Überrascht oder schockiert" seien die Tänzer oft einmal, sagt Hermann Haertel, "aber das ist ja auch gut." Die Absicht der Österreicher geht trotzdem auf: Niederbayern tanzen zur kaum bekannten Musik ihrer Vorfahren. Die meisten mit Begeisterung.

Nächster Workshop in Wippstetten 11. bis 13. Oktober 2019. Infos zu Workshops des Reisenden Archivs: bureau@dra.tradmus.org

© SZ vom 18.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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