Süddeutsche Zeitung

Winter in Bayern:Ein ganzes Dorf wartet auf die Lawine

230 Einwohner mussten Raiten bei Schleching verlassen, auch die Tiere haben sie inzwischen rausgeholt. Wann der Schnee kommt? Womöglich dürfen sie erst nach dem Wochenende zurück.

Von Matthias Köpf und Christian Sebald, Schleching

Am frühen Nachmittag staubt 1000 Meter über dem Dorf plötzlich der Schnee auf, der Wind verweht ihn so schnell, wie er zwei Stunden vorher die Föhnwolken über die Berge geblasen hat. Unten im Tal zwicken an der gesperrten Bundesstraße inzwischen doch ziemlich viele Menschen die Augen zusammen und starren hinauf zur Hochplatte.

Die Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Bergwacht werden immer mehr, und auch von den Raitenern selbst haben sich wieder einige an der Straßenkreuzung versammelt, an der sie sich schon einen Tag zuvor hatten einfinden müssen, um ihr Dorf auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Nur für kurze Zeit, zwei oder drei Stunden vielleicht, denn man wolle die Lawine vom Hang sprengen, so habe es anfangs geheißen, sagt Franz Parzinger. Übernachtet hat er dann doch bei seinem Sohn im nahen Marquartstein, inzwischen hat er sich drüben in Unterwössen eine Zahnbürste gekauft. Wann er wieder in sein Haus in Raiten zurückkann, weiß er nicht.

Seither warten nicht nur die Raitener auf die Entscheidung der Lawinenkommission und des Führungsstabs im Traunsteiner Landratsamt. Ein kleines bisschen aber warten sie doch auch auf die Staublawine, vor der die Lawinenkommission am Mittwochvormittag nach einem Erkundungsflug mit dem Hubschrauber gewarnt hat. Ihretwegen ordnete der Führungsstab umgehend die Evakuierung des Dorfs an.

266 Menschen sind in Raiten gemeldet, knapp die Hälfte von ihnen war nicht daheim, betroffen sind bis Donnerstagnachmittag ungefähr 230 Menschen. Fast alle sind bei Verwandten oder Freunden in den Umgebung untergekommen. Im Rathaus der Gemeinde Schleching, zu der Raiten gehört, mussten sie vielleicht fünf oder sechs Raitenern Adressen von Pensionen oder Ferienwohnungsvermietern im Ort nennen. Am Mittwochabend durften noch für eine Stunde die Bauern zum Melken ins Dorf, alle penibel registriert und mit Lawinenpiepsern ausgestattet, erzählt Alois Steiner, der selber auch mit beim Melken war.

Steiner ist einer, der im Ort für den starken Zusammenhalt sorgt, für den die Raitener rundum bekannt sind. Jetzt ist er aber selbst nervös und telefoniert immer wieder. Sechs Schafe hat er noch drin, doch am Donnerstagnachmittag wollen die vielen Bereitschaftspolizisten partout keinen mehr ins Dorf lassen, während auf der Bundesstraße ein Lastwagen Container herbeifährt für die Polizisten, die hier über Nacht Wache halten sollen an den Ortseingängen.

"Wir müssen schon auf die Leute hören", sagt Alois Steiner immer wieder. Mal sagt er es ins Telefon, mal hier auf der Straße zu Franz Parzinger oder zu Fritz Irlacher, dem Altbürgermeister aus Schleching, und mal zu anderen Raitenern, die vom "Otto seiner Katze" erzählen, die noch drin sei oder von den eigenen Hühnern oder von der Holzheizung, die doch dringend weiter befeuert gehöre. Oder von der eigenen Ehefrau, die sich doch tatsächlich von der Polizei beim heimlichen Friedhofsbesuch im Dorf habe ertappen lassen.

Doch spätestens seit der Nacht sollten weder Mensch noch Tier im Ort sein. Zwischen vier und fünf Uhr in der Frühe, als es die Lawinenkommission kältehalber für am sichersten hielt, trieben die Bauern und Helfer 80 Kühe in die Anhänger. Inzwischen stehen manche Tiere bei Bauern in der Umgebung, manche in freien Ställen am anderen Ende des Landkreises. Auch fünf Ziegen, ein Schaf, ein Pferd und einen Hasen habe man herausgeholt, heißt es vom Landratsamt. Alois Steiners sechs Schafe müssen aber einstweilen selber zurechtkommen, es darf niemand mehr hinein. Anscheinend meinten sie es wirklich ernst, sagt einer der Raitener. Mancher hat die Evakuierung am Mittwoch als überstürzt oder rabiat empfunden, aber wer wollte das entscheiden, wer wollte schon die Verantwortung übernehmen, wenn wirklich was passiert, fragt Fritz Irlacher.

So bleibt Alois Steiner und Franz Parzinger wenig anderes übrig, als die Augen zusammenzwicken und hinaufzuschauen in den steilen Osthang unter dem Gipfel der Hochplatte, wo der einst sehr aktive Bergwachtler Parzinger kaum Risse in der Schneedecke erkennen kann, die für ihn eine unmittelbare Gefahr bedeuten würden. Aber was, wenn es wieder drauf schneit? Oder wenn es wärmer wird und oben noch mehr Nadelbäume als jetzt schon wieder schwarz dastehen statt schneeweiß? Der Weg, den die Lawine hinunter nach Raiten nehmen würde, ist deutlich zu sehen: Eine andere Lawine hat 2009 eine Schneise bis fast in den Ort hinunter geschlagen.

Ganz oben sind die Leute von der Lawinenkommission mit bloßem Auge zu erkennen. Fünf seien es, sagt der junge Bergwachtmann mit dem Fernglas, der Hubschrauber hat sie am Vormittag oben abgesetzt, damit sie ein Schneeprofil graben und die gesamte Lage besser beurteilen können. Der Schnee, der jetzt aufstaubt, ist nicht die Lawine; der Hubschrauber hat ihn aufgeweht, als er die Lawinenleute wieder aufnimmt.

Eine Nacht werden die Raitener mindestens noch auswärts schlafen müssen, heißt es später vom Landratsamt und von Bürgermeister Josef Loferer, womöglich aber auch bis übers Wochenende.

In der Lawinenwarnzentrale in München versuchen sie derweil herauszufinden, wo überall in den vergangenen Tagen Lawinen Schäden angerichtet haben: "Die Lage ist schon außergewöhnlich", sagt Hans Konetschny. "Bislang haben wir alleine 20 sehr große Lawinen gezählt, vor allem in den Berchtesgadener Alpen, wo am meisten Schnee gefallen ist." Sehr große Lawinen haben ein Volumen von 10 000 Kubikmeter Schnee oder mehr. Nicht selten erreichen sie 100 000 Kubikmeter Volumen. So wie die Staublawine, die in Ramsau von der Reiter Alm in Richtung Hintersee abgegangen ist. Vier Hektar Wald sind komplett zerstört. In den nächsten Tagen aber, da sind sich die Experten einig, soll sich die Situation entschärfen.

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SZ vom 18.01.2019/infu
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