Windräder in Bayern:Seehofers Rechenfehler bei der 10-H-Regel

Regenbogen hinter Windrad und Stromleitungen

Windkraftanlagen und Stromtrassen können ihre ganz eigene Ästhetik entwickeln. Trotzdem sind sie bei den Anrainern eher unbeliebt.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Die Gesetzesformel, dass die Windräder zehnmal so weit vom Ort entfernt sein müssen wie ihre Höhe, klang einfach. Nun zeigt sich, dass der Ministerpräsident zu viele Ausnahmen eingebaut hat.

Von Christian Sebald, Rottenburg

Wer wissen will, wie verfahren der Streit um die Windkraft ist, muss auf das niederbayerische Städtchen Rottenburg an der Laaber schauen. Dort hat der Stadtrat dieser Tage den Bau zweier Windräder abgelehnt - obwohl dem Projekt rechtlich nichts entgegen stand. "Aber wenn wir die Windräder nicht gestoppt hätten, hätten wir hier Revolution gehabt", sagt Hubert Aiwanger. "Das ist das Chaos, das Ministerpräsident Horst Seehofer mit seinem Abstandsgesetz angerichtet hat."

Aiwanger muss es wissen. Er ist nicht nur Chef der Freien Wähler in Bayern und im Landtag. Sondern auch Stadtrat in seiner Heimatstadt Rottenburg. Der Rottenburger Bürgermeister Alfred Holzner urteilt ähnlich, auch wenn er es nicht so derb wie Aiwanger sagen würde. "Der Widerstand in den Dörfern ist zu massiv", sagt Holzner, "wir konnten nicht anders, als die beiden Windräder abzulehnen."

Der Reihe nach. Die zwei Windräder des Regensburger Unternehmens Voltgrün sollten gigantische Türme werden - satte 229 Meter hoch vom Fundamt bis zur Rotorspitze. Entsprechend imposant wäre die Leistung der Anlagen gewesen: 16 Millionen Kilowattstunden Strom sollten sie pro Jahr erzeugen, rein rechnerisch reicht das aus für den Bedarf von 4400 Haushalten. Das Investitionsvolumen hätte zwölf Millionen Euro betragen.

2290 oder 800 Meter Abstand? Beides wäre laut Gesetz zulässig

Nun möchte man meinen, die beiden Riesenwindräder hätten schon wegen Seehofers 10-H-Gesetz keine Chance in Rottenburg gehabt. 10 H, das ist die Formel, die der Ministerpräsident und die CSU im November 2014 in ein Gesetz gossen, um den Streit um den Ausbau der Windkraft in Bayern zu befrieden. Danach dürfen Windräder nur noch dann aufgestellt werden, wenn ihr Abstand zum nächsten Dorf das Zehnfache ihrer Höhe beträgt.

Im Fall der Rottenburger Windräder sind das 2290 Meter. Diese Vorgabe konnten die Anlagen bei weitem nicht einhalten. Ihre Entfernung zu den nächsten Dörfern hätte knapp 1000 Meter betragen. 10 H würde die Türme also von vorne herein unmöglich machen - erwarteten zumindest die Windkraft-Gegner in Rottenburg.

Aber das war nicht der Fall. Denn Seehofers 10-H-Gesetz enthält Ausnahmen für geringere Abstände. Eine davon gilt für sogenannte Sondergebiete Windkraft, welche viele Gemeinden überall im Freistaat vor dem 10-H-Gesetz ausgewiesen und ausdrücklich für Windräder reserviert haben. In punkto Abstand zu den nächsten Dörfern richten sie sich zumeist nach den alten Vorgaben aus der Zeit vor 10 H. In der Regel sind das - wie in Rottenburg - 800 bis 1000 Meter.

Nach Erlass ihres 10-H-Gesetzes überließen es die Staatsregierung und die CSU den Kommunen, was sie mit ihren Sondergebieten Windkraft anfangen. Sie konnten sie annullieren oder belassen, wie sie sind. "Wir in Rottenburg haben uns entschieden, unser Sondergebiet Windkraft zu behalten", sagt Bürgermeister Holzner, "denn es hat ja keinerlei Proteste oder Einsprüche gegeben, als wir es in den Jahren 2102 und 2013 ausgewiesen haben."

"Eine sachliche Beratung war nicht möglich"

Voltgrün wollte seine beiden Riesenwindräder in dem Rottenburger Sondergebiet Windkraft aufstellen. Und weil das Sondergebiet Bestand hat, wäre das rechtlich durchaus möglich gewesen - obwohl die 229 Meter hohen Türme klar gegen 10 H verstoßen. Denn die Vorgaben für das Sondergebiet Windkraft erfüllten die Anlagen ja. Aus diesem Grund dürfen auch in allen anderen Sondergebieten Windkraft in Bayern Windräder errichtet werden, egal ob sie die 10-H-Vorgabe erfüllen oder nicht. Hauptsache, sie entsprechen den Regeln für das jeweilige Sondergebiet.

Dabei geht es um eine Menge Anlagen. Ein Vertreter der Staatsregierung bezifferte ihre Zahl kürzlich auf wenigstens 700. Ministerpräsident Horst Seehofer und die CSU stehen ausdrücklich zu der Ausnahmeregelung. Sie ermögliche nicht nur den weiteren Ausbau der Windkraft, sagen sie. Sondern sie stärke die Eigenverantwortung der Kommunen und sichere damit ihr Grundrecht auf Selbstverwaltung.

Der Rottenburger Bürgermeister Holzner sieht das anders. Aus seiner Sicht sorgen das 10-H-Gesetz und seine Ausnahmeregelungen für Unfrieden. Der Streit um die Windkraft habe sich durch 10 H eher verschärft, als dass ihn das Gesetz befriedet habe, klagt er. Und es überlasse den Streit den Kommunalpolitikern. Die Staatsregierung habe sich aus der Verantwortung gestohlen.

"Denn das 10-H-Gesetz und seine Ausnahmeregelungen sind der Bevölkerung nicht zu vermitteln", sagt Holzner. "Die Leute haben im Kopf, dass 10 H überall gilt. Dass es Sonderregelungen geben soll, verstehen sie nicht und sie akzeptieren es auch nicht. Eine vernünftige, sachliche Diskussion ist nicht mehr möglich."

Während Politiker und Bürger streiten, bläst der Betreiber das Projekt ab

Kaum hatte in Rottenburg die Nachricht von den beiden Riesenwindrädern die Runde gemacht, da gab es massive Widerstände. Die einen prangerten die "Verspargelung der Landschaft" an, die anderen sorgen sich um angebliche Gesundheitsgefahren, die von den Anlagen und ihrem Infraschall ausgehen könnten. Wieder andere klagen darüber, dass ihre Immobilien womöglich an Wert verlieren, wenn sich in deren Nähe plötzlich zwei so gigantische Windräder drehen.

"Ich habe selten eine so aufgeheizte Bürgerversammlung erlebt wie die, die ich über die beiden Windräder angesetzt habe", sagt Holzner. "Und als es jetzt im Stadtrat um die Anlagen ging, verfolgten gut hundert Besucher die Sitzung. Für gewöhnlich sind es vielleicht zwei. Eine sachliche Beratung war nicht möglich."

So kam es, wie es kommen musste: Um des Friedens in ihrer Stadt willen lehnten Holzner und seine Stadträte den Bau der beiden Riesenwindräder ab. Dennoch wollten sie die Tür für die Windkraft nicht völlig zuschlagen. Also beschlossen sie, die Regularien für ihr Sondergebiet Windkraft zu präzisieren. So wollen sie Vorgaben für die Höhe der Anlagen erarbeiten, die dort aufgestellt werden können. Außerdem wollen sie sich auf eine Anlagenanzahl verständigen. Vor allem aber setzen sie in Rottenburg auf den 9. Mai.

An dem Tag verkündet der Bayerische Verfassungsgerichtshof sein Urteil, ob das 10-H-Gesetz Bestand hat oder ob es die Staatsregierung zumindest modifizieren muss, damit Fälle wie in Rottenburg nicht mehr passieren können. "Wir hoffen sehr auf das Verfassungsgericht", sagt Holzner, "damit endlich Frieden und Verlässlichkeit einkehrt." Freie-Wähler-Chef Aiwanger erwartet, dass der Verfassungsgerichtshof 10 H zu Fall bringt. Seine Landtagsfraktion ist einer der Kläger gegen das Gesetz.

Voltgrün indes gibt den beiden Windrädern keine Chance mehr. "Nach der Ablehnung im Stadtrat haben wir uns von dem Projekt zurückgezogen", sagt Geschäftsführer Stefan Trummer. "Wir werden es definitiv nicht weiterverfolgen."

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