186 Meter hoch ragt der Fabrikschlot des Chemieparks Gendorf über dem Werksgelände bei Burgkirchen auf. Vom Dorfplatz der kleinen Gemeinde Emmerting aus, dreieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, ist er über den Wald hinweg gut zu erkennen - auch nachts, wenn die roten Lampen leuchten, die sich in drei Ringen um den Kamin ziehen. Bald könnten von hier aus in ähnlicher Höhe noch mehr Positionslampen zu sehen sein, scheinbar blinkend im Rhythmus der Rotoren. Denn die Industrie hier im bayerischen Chemiedreieck verbraucht gewaltige Mengen Energie, und wenigstens ein kleiner Teil davon soll in Zeiten von Klimakrise, Energiewende und Ukrainekrieg künftig aus der Region kommen.
30 bis 40 Windenergieanlagen könnten im Altöttinger und Burghauser Forst entstehen, hieß es, als Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Dezember "das größte Onshore-Windprojekt in Deutschland" angekündigt hat. Das Wort "Projekt" hat er dabei nicht besonders betont, obwohl in vielen nördlichen Bundesländern längst sehr viel größere Windparks existieren. Doch für bayerische Verhältnisse ist das Vorhaben von ganz neuer Größe. Im Chemiedreieck wächst die Zuversicht, aber inzwischen auch der Widerstand.
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Der Gemeinderat von Emmerting zum Beispiel hat neulich zwar nicht direkt Nein gesagt zum Projekt "Rückenwind ChemDelta", das vom Interessenverband der örtlichen Chemieindustrie angestoßen wurde und das die Bayerischen Staatsforsten und das Landratsamt in Altötting gerade mit Nachdruck vorantreiben. Das Ja der jeweiligen Kommune, das die Staatsforsten als Auflage ihres Aufsichtsrats unbedingt brauchen, kam aus Emmerting allerdings auch nicht. Die Gemeinde liegt mittendrin im Projektgebiet, genau zwischen dem Öttinger und dem Burghauser Forst. "Uns ist einfach die Informationslage zu dünn", sagt Bürgermeister Stefan Kammergruber (CSU), der sich erklärtermaßen überrumpelt fühlt von all den Leuten, die plötzlich Windräder "wie eine Monstranz" vor sich hertrügen. Man müsse Kritik üben dürfen, ohne gleich als Gegner zu gelten, sagt Kammergruber. "Rundum die Windräder, da muss ich schauen, dass mir nicht schwindlig wird."
Schwindlig werden könnte einem Dorfbürgermeister auch, wenn auf einmal 150 Zuhörer in die Ratssitzung drängen, weil plötzlich Plakate im Ort hingen und in jedem Briefkasten ein Flugblatt lag. So ist es vor Kurzem im nahen Kastl gewesen, wo jene 150 Zuhörer im brechend vollen Sitzungsraum dann applaudiert haben, als Bürgermeister Gottfried Mitterer (FW) und die Fraktionssprecher ankündigten, dem Windpark vorerst nicht zuzustimmen. Wer wo welche Plakate klebt und Flugblätter einwirft, verabreden die "Gegenwind"-Aktivisten über den Messengerdienst Telegram. Die offene, knapp 250 Mitglieder starke Gruppe dort hat der Altöttinger Stadt- und Kreisrat Günther Vogl von der AfD eingerichtet, dessen Partei gerade versucht, die Kritik am geplanten Windpark auf die eigenen Mühlen zu lenken.
Windkraft, das sei "maximale Waldzerstörung bei minimaler Stromausbeute", heißt es auf den Flugblättern unter anderem. Es würden Tausende Bäume gefällt, es würden Vögel, Fledermäuse und Insekten von den Rotorblättern getötet, und überdies würden die Immobilien der Anwohner weniger wert. Das Hauptargumente der Skeptiker und Kritiker aber lautet, der Wind wehe sowieso viel zu unstet und viel schwach über Bayerns Südosten.
Jährlicher Ertrag pro Windrad? Zwölf Millionen Kilowattstunden
Dem tritt unter anderem Rainer Droste entgegen, der bei den Staatsforsten für die Windkraft zuständig ist. Laut dem bayerischen Windatlas gebe es in 160 Metern Höhe über dem Boden Windgeschwindigkeiten von 5,3 Metern pro Sekunde, was grob im bayerischen Schnitt liege und auch anderswo einen rentablen Betrieb von Windrädern ermögliche. Eine neuerliche Windmessung, wie sie manche Gemeinderäte vor einer Entscheidung gerne gehabt hätten, hält auch Peter Beermann nicht für nötig. Der von der Staatsregierung bestellte "Windkümmerer" für Oberbayern schätzt den jährlichen Stromertrag pro Windrad auf mindestens zwölf Millionen Kilowattstunden und bekräftigt, dass sich die Werte aus dem Windatlas meist gut bestätigt hätten und jeder Projektenwickler ohnehin eigene Messungen anstellen werde. Dies könne parallel zu den etwa ein Jahr dauernden Artenschutzuntersuchungen geschehen.
Einen oder zwei Projektentwickler, die jeweils einen dreistelligen Millionenbetrag investieren, die genauen Standorte planen und die Anlagen später eventuell auch selbst betreiben, wollen die Staatsforsten per Bieterverfahren möglichst schon bis Mai gefunden haben. Von den insgesamt etwa 5000 Hektar, die das Waldgebiet zwischen Altötting und Burghausen umfasst, haben sie alle Wasserschutzgebiete, Flora-Fauna-Habitate und ähnliche Schutzgebiete, die Abstandskorridore entlang der Alz und der größeren Straßen sowie all jene Flächen abgezogen, die weniger als einen Kilometer von der nächsten Wohnsiedlung entfernt sind. Übrig geblieben sind etwas mehr als 1300 Hektar. Die würden rein rechnerisch für etwa 50 Windräder reichen, werden aber nach Erwartung von Staatsforsten-Bereichsleiter Droste etwa wegen des Biotop- und Artenschutzes noch weniger werden.
Die 1300 Hektar verteilen sich auf neun verschiedene Gemeinden. Nachdem inzwischen acht Stadt- und Gemeinderäte abgestimmt haben und nur zwei nicht dafür waren, kann aus Sicht des Altöttinger Landrats Erwin Schneider (CSU) nicht mehr allzu viel dazwischen kommen. Emmerting mit seinem Anteil von 128 Hektar mache "jetzt das Kraut nicht fett" und der Wald bei Kastl sei sowieso meist Wasserschutzgebiet. Was die Stadt Neuötting betrifft, zu der mit 374 Hektar die größte Teilfläche gehört, so ist den Staatsforsten das an einige Bedingungen geknüpfte Ja der Räte zwar noch nicht deutlich genug. Darüber jedoch zeigt sich Bürgermeister Peter Haugeneder (SPD) recht verwundert, eine Einigung ist absehbar.
Wirtschaft:Bayerns Chemiedreieck am Scheideweg
Die Chemie-Industrie rund um Burghausen steht vor einem existenziellen Umbruch. Scheitert die Umstellung von Öl und Erdgas auf Wasserstoff und regenerative Energiequellen, ist der Wohlstand der gesamten Region in Gefahr.
Bürger können Anteilseigner werden
Die Bürger der betreffenden Kommunen sollen sich laut Staatsforsten an dem Vorhaben beteiligen können - dies aber vor allem wirtschaftlich, etwa als Anteilseigner oder als Mitglieder einer Wind-Genossenschaft. Das Mitspracherecht bei der Genehmigung wird sich auf bloße Stellungnahmen der Kommunen beschränken - als erstes bei der bereits in die Wege geleiteten Änderung des Regionalplans, der Windräder im Öttinger und Burghauser Forst bisher ausdrücklich ausschließt. Die einzelnen Planungsregionen, in diesem Fall Südostoberbayern, sollen nach dem Willen der Staatsregierung jede für sich jene 1,8 Prozent ihrer Fläche als Gebiete für die Windenergie definieren, die auch der Freistaat als ganzer bis in zehn Jahren ausweisen muss. So sieht es das Wind-an-Land-Gesetz des Bundes vor, das gerade in Kraft getreten ist.
An Abnehmern für den Strom wird es im Chemiedreieck nicht mangeln. "Ich kann ihnen versichern, wir nehmen den Strom, wie er kommt", sagt Peter von Zumbusch, Werkleiter von Wacker-Chemie in Burghausen und Vorsitzender des ChemDelta-Verbands. Wacker will seinen CO₂-Ausstoß bis 203o halbieren und 2045 klimaneutral sein, dazu wird es gewaltige Mengen grünen Stroms brauchen. Schon jetzt verbraucht die Industrie im Chemiedreieck rund fünf Terawattstunden Strom im Jahr, etwa ein Prozent des gesamten Verbrauchs in Deutschland. Ein Zehntel dieser derzeit benötigten Menge sollen die anvisierten 40 Windräder im besten Fall erzeugen.
Doch der Bedarf im Chemdelta dürfte sich bald mindestens verdoppeln und könnte noch viel größer werden, falls die Unternehmen den als Rohstoff benötigten Wasserstoff mangels Pipeline selbst erzeugen müssen. Da wird der erhoffte "Rückenwind" nur ein kleiner Beitrag sein, was Befürworter und Kritiker unterschiedlich bewerten. Die Staatsforsten dagegen drehen mit dem Vorhaben ein großes Rad, denn sie haben in ihren Wäldern insgesamt erst 101 Anlagen stehen.