Süddeutsche Zeitung

Wiederaufnahme im Fall Peggy:"Ich hoffe, dass es jetzt Gerechtigkeit gibt"

13 Jahre nach dem Verschwinden der kleinen Peggy aus Lichtenberg wird der Fall neu aufgerollt. Vor Gericht werden zwei ehemalige Klassenkameraden gehört, deren Erinnerungen Zweifel an den Ermittlungen wecken.

Von Anna Fischhaber, Bayreuth

"Das, an was Sie sich heute erinnern sollen, liegt schon sehr, sehr lange zurück", sagt der Richter, als der junge Mann im Zeugenstand Platz genommen hat. "Ich war damals acht oder neun Jahre alt", antwortet der Student mit dem karierten Hemd und dem Dreitagebart. Der Zeuge war mit Peggy in einer Klasse. Er ist Anfang 20, so alt, wie auch das verschwundene Mädchen heute wäre. Wenn sie noch leben würde. Doch von Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg fehlt seit Mai 2001 jede Spur. Seit diesem Donnerstag wird der Fall vor dem Landgericht Bayreuth neu aufgerollt.

"Der Jörg und ich haben gesehen, wie sie in ein Auto eingestiegen ist", sagt der Zeuge. Der Wagen sei wahrscheinlich rot gewesen, hätte wohl ein ausländisches Kennzeichen gehabt. Sicher ist er sich nicht mehr. Auch nicht, ob er mit dem Mädchen geredet hat oder versucht hat, sie aufzuhalten. "Weiß ich nicht", antwortet er immer wieder. "Aber Sie sind sich sicher, dass es Peggy war?", fragt der Richter. "Da bin ich sicher. Ich war mit ihr in einer Klasse, ich habe sie jeden Tag gesehen", antwortet der Zeuge.

Das Brisante an der Aussage: Er will das Mädchen am Nachmittag gesehen haben. Zu einem Zeitpunkt, als Ulvi K. sie längst umgebracht haben soll. Zumindest wenn es nach dem Landgericht Hof geht, dass den geistig behinderten Mann 2004 als Mörder verurteilte. Den Klassenkameraden glaubte die Polizei damals nicht. Nun bekommt Ulvi K. einen neuen Prozess.

Tausend Peggys in Lichtenberg

"Ich finde es falsch, was sie mit Ulvi gemacht haben. Ich habe sie doch noch gesehen. Ich hoffe, dass es jetzt Gerechtigkeit gibt", sagt der junge Mann. Vor der Polizei hatte der Zeuge seine Aussage einst widerrufen. Wieso, will der Richter jetzt wissen. "Weil ich ein Kind war und Angst vor der Polizei hatte", sagt er. Die Ermittler hätten ihn und seinen Freund getrennt befragt und ihm erklärt, Jörg habe bereits zugegeben, die beiden hätten gelogen. Nun wird Staatsanwältin Sandra Staade streng: "Ihre Aussagen wurden damals immer kreativer."

Die Ermittler kann sie verstehen: "Es war nicht völlig abwegig, dass die Polizei Zweifel hatte, weil sich die Aussagen der Schulfreunde widersprochen haben", sagt die Staatsanwältin. Und würde man allen Zeugenaussagen glauben, hätte es Peggy tausendmal in Lichtenberg gegeben. Doch auch der ehemalige Klassenkamerad Jörg, der zweite Zeuge an diesem Nachmittag, wird von Richtern und Staatsanwälten streng zu seinen widersprüchlichen Aussagen befragt - und behauptet dennoch, er könne sich an Peggy und das Auto an diesem Nachmittag erinnern.

Die Staatsanwältin beantragt schließlich, die Vernehmungsbeamten von damals noch einmal zu laden. Die Aussagen dieses Donnerstags hätten den Eindruck erweckt, die beiden Zeugen seien von den Polizisten unter Druck gesetzt worden. Doch das ergebe sich aus den Ermittlungsakten nicht.

Am Vormittag hatte Ulvi K.s Anwalt Michael Euler schwere Vorwürfe gegen die Ermittler erhoben. "Herr K. wird sich über seinen Verteidiger zur Sache äußern", erklärte er für seinen Mandanten Ulvi K., 36, schwarzes Hemd, beiges Sakko, der von einigen Zuschauern mit Applaus im Gerichtssaal begrüßt worden war. Es folgte eine Art Plädoyer gegen angebliche Ermittlungspannen. Das Landgericht Hof hatte sich bei seinem damaligen Urteil vor allem auf das Geständnis von Ulvi K. gestützt . Es ging davon aus, der geistig behinderte Mann habe das Mädchen wenige Tage vor dessen Verschwinden sexuell missbraucht und es dann getötet, um die Aufdeckung dieser Tat zu verhindern.

Es gebe nicht ein, sondern gleich vier widersprüchliche Geständnisse, erklärt der Verteidiger. Zu Peggys Leiche habe keine der Aussagen geführt. Später widerrief sein Mandant gänzlich, den Mord begangen zu haben. "Es hätten Zweifel aufkommen müssen, ob das Geständnis wirklich wahr war", sagt der Verteidiger. Auch der sexuelle Missbrauch habe nicht stattgefunden. "Ulvi K. hat immer nur gesagt, was die Polizei ihm vorgehalten hat." Die Verhörmethoden kritisiert Euler scharf: Fix und fertig sei Ulvi K., damals auf dem Stand eines Zehnjährigen, danach gewesen, sagt Euler. Und er behauptet: "Mein Mandant ist während der Vernehmung auch gefoltert worden."

Staatsanwältin Staade weist das zurück. Sie wirft Euler vor, sich im Ton zu vergreifen. Ein Amtsrichter, der Ulvi K. bereits vor Jahren vernommen hat, kann nur von einem Übergriff berichten. Der Angeklagte habe damals erzählt, ein Beamter habe ihm mit dem Daumen unter die Schulterblätter gedrückt, sagt der Zeuge. Das habe wehgetan, aber es sei nur einmal passiert. Wer der Beamte war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Und auch nicht an Misshandlungen. "Die Vernehmung war nicht sehr ergiebig", sagt der Richter. Aber den Daumendruck, den habe er Ulvi K. abgenommen.

Der Richter hat auch einen gewissen Peter H. vernommen. Der hatte im Prozess 2004 erklärt, sein Bayreuther Mitpatient Ulvi K. habe ihm den Mord gestanden. 2010 zog der inzwischen verstorbene Peter H. die Aussage vor dem Richter zurück. "Da saß ein todkranker Mann vor mir", sagt der Zeuge. "Er ist nicht in der Absicht zu mir gekommen, mir die Unwahrheit zu erzählen." Nicht sicher ist er allerdings, ob die Vorwürfe stimmen, die auch Peter H. gegen die Polizei erhoben hat. Die soll Ulvi K. für seine Aussage die Freilassung versprochen haben. "Aber das glaube ich nicht", sagt der Amtsrichter. "Vielleicht hat er sich das eingebildet. Und die Polizei hat nicht widersprochen."

Und noch ein Zeuge aus Lichtenberg sagt aus. Auch er, damals 15 Jahre alt, will Peggy am Nachmittag ihres Verschwindens gesehen haben. Ebenfalls zu einem Zeitpunkt, als sie laut erstem Gerichtsurteil bereits tot war. Hinter dem Mädchen will er zwei Bekannte beobachtet haben - doch die waren an diesem Tag gar nicht am Marktplatz. Dass er Peggy nicht verwechselt hat, davon ist der Mann aber noch heute überzeugt. Das habe ihn die Polizei damals schon oft gefragt. "Man kann ja so lange fragen, bis man die Antwort bekommt", sagt er. Ein weiterer Zeuge kann sich an nichts mehr erinnern.

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