Die Staatskanzlei wurde nicht gestürmt, kein einziger Pflasterstein flog durch die Luft, kein Kratzer ist an den steinernen Löwen in der Feldherrnhalle auszumachen. Stattdessen liegt der Münchner Odeonsplatz da wie immer, als wäre nichts gewesen. Nein, in Schutt und Asche, wie es CSU-Generalsekretär Markus Blume befürchtet hatte, haben die Demonstranten München nicht zurückgelassen. Die CSU aber haben sie doch ein wenig das Fürchten gelehrt - und die Opposition darf ausnahmsweise mal wieder jubeln.
Gut 30 000 Menschen gingen am Donnerstag gegen das neue Polizeigesetz der CSU und eine Erweiterung der polizeilichen Befugnisse auf die Straße, manche zählten gar 40 000. Jede Seitengasse füllte der Protest. Als die Ersten schon an der Staatskanzlei waren, hatten sich die Letzten am Marienplatz noch gar nicht in Bewegung gesetzt. Dazwischen: ein Kilometer dicht gedrängter Widerstand. Ein Wimmelmeer an Menschen vor dem Rathaus, das kennen die Münchner sonst nur noch von Meisterschaftsfeiern des FC Bayern.
Aber weil den Menschen etwas stinkt? Da muss schon etwas Besonderes passiert sein. Vor drei Jahren kamen 35 000 Demonstranten aus aller Welt zum Protest gegen den G-7-Gipfel. Weitere fünf Jahre vorher reihten sich 50 000 zu einer Menschenkette gegen Atomkraft aneinander. Das waren immerhin halb so viele wie in den Achtzigern, beim historischen Widerstand gegen die Wiederaufarbeitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf.
Am Donnerstag war es wieder da, das Wackersdorf-Gefühl. Auf der einen Seite die CSU, auf der anderen Zehntausende, die gegen sie stehen. Und dazu ein Thema, das es in sich hat, ein Land zu spalten, in dem die Gretchenfrage der Achtzigerjahre wieder mitschwingt: Wie hältst du's mit der CSU? Es ist eine Frage aus einer Zeit der Großkonflikte, als die Bäume-Umarmer zur Umweltbewegung wurden, als der Nato-Doppelbeschluss Tausende Friedensbewegte auf die Straße trieb. Eine Frage, die tief ins Alltagsleben hineinreichte, die entschied, zu wem man sich auf dem Schulhof gesellte: zu jenen mit dem Stoppt-Strauß-Button am grünen Parka oder zu den anderen. Zu den anderen gehörte Jahre später auch ein gewisser Markus Söder, der Strauß so sehr anhimmelte, dass er ein Poster von ihm gleich beim Aufwachen sehen wollte. Direkt über seinem Bett an der Dachschräge platzierte er sein Idol.
Jetzt ist Söder selbst Ministerpräsident. "Stoppt Söder", den Button gibt es nicht. Aber es ist sein Konterfei, nicht das von Innenminister Joachim Herrmann, das auf unzähligen Plakaten in die Luft gereckt wird - als wäre es ein Freiheitskampf.
Söder, der Spalter, so nennt ihn die Opposition, die so verzweifelt nach einem Thema suchte und nun eines gefunden zu haben glaubt. Endlich wieder ein Feindbild, frohlockten SPD und Grüne, als Söder zum Spitzenkandidaten der CSU ausgerufen wurde. Und die dann erlebten, wie dieser Söder ihnen ein Thema nach dem anderen entwand: Pflege, Wohnen, Verkehr - alles unterlegt mit sehr viel Geld. In der Großdemonstration sehen manche jetzt den Vorboten einer Zeit, in der Politik wieder als Ringen der großen Ideen wahrgenommen wird. Und in der eine neue Generation des Widerstands auf den Plan tritt. Neben all denen, die ein Demonstrations-Abo gelöst haben, fanden sich vor allem junge Menschen in den Straßen. Die These von der entpolitisierten Jugend, gerade in Bayern, wo es allen eh so gut geht, dass sich Protest nicht lohnt, sie schien für ein paar Stunden widerlegt. "Ich bin so aufgebracht, dass ich sogar ein Schild gemalt habe", dieses Plakat ist Katharina Schulze am meisten in Erinnerung geblieben. Die Spitzenkandidatin der Grünen zieht für sich den Schluss: "Auch Menschen, die normalerweise nicht demonstrieren, langt es jetzt." Erst die Rede vom Islam, der nicht zu Deutschland gehöre, dann die Grenzpolizei, der Kreuz-Erlass und das in einer Zeit von Trump, Brexit und einer immer stärker werdenden AfD - mit dem Polizeiaufgabengesetz, dem PAG, habe Söder das Fass zum Überlaufen gebracht, glaubt Schulze. Und dann wird sie grundsätzlich: "Die Menschen kämpfen für ihr Bayern, das Söder nicht mehr repräsentiert." Vielleicht sei das bei Strauß ja genauso gewesen.
Schulze, 32, ist zu jung, um das zu wissen, Natascha Kohnen aber war schon in Wackersdorf dabei. Einen Hauch von damals spürte die SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl auch jetzt. In Wackersdorf reihte sich im Protest die oberpfälzische Hausfrau neben Autonomen und Ökos ein. Jetzt sind im Anti-PAG-Bündnis mehr als 80 Parteien und Verbände versammelt, nicht nur SPD, Grüne und FDP, sondern auch Christen, Löwen-Fans, die Antifa und Umweltschützer stehen nebeneinander.
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"Es sind völlig normale Menschen aus Bayern, die jetzt ein Stopp-Schild hochhalten: Der Freiheit darf man nicht zu Leibe rücken", sagt Kohnen. Nicht gegen die Polizei, sondern gegen das Gesetz der CSU richte sich der Protest. Die CSU aber höre die Warnsignale der Bürger nicht. Innenminister Herrmann sprach am Freitag von einer teilweisen "Lügenpropaganda der letzten Wochen", die manche Demonstranten wohl in die Irre geführt habe. "Undemokratisch, arrogant und überheblich", nennt Kohnen das.
Es gibt aber auch Stimmen in der SPD, die davor warnen, ganz vorne mitzusurfen auf der Protestwelle gegen das PAG. Thomas Jung etwa, der populäre Oberbürgermeister von Fürth. Auch er war in Wackersdorf dabei, seine Mutter hat damals CS-Gas in die Augen bekommen. Er versteht, wie eine solche Erfahrung den Menschen prägt, er kennt aber auch das Klientel der SPD. "Der typische SPD-Wähler ist oft ein Mensch, für den Sicherheit wichtig ist. Dazu gehört auch die innere Sicherheit. Die wollen einen starken Staat und dazu gehört auch eine starke Polizei."
Sicher gebe es einiges zu kritisieren am PAG, sagt Jung, beim Wähler aber kämen oft verkürzte Botschaften an, zum Beispiel: "Jemand will der Polizei etwas Gutes tun und da wird dran rumgemeckert." Christian Ude, Alt-OB von München, kritisiert das Gesetz scharf, er mahnt aber, eine sicherheitspolitische Haltung der SPD müsse erkennbar sein. Die Breite des Bündnisses mache es der CSU leichter, das Klischee zu bedienen: "Die CSU ist für die Sicherheit, die SPD dagegen." In Söders Strategie, vermutet Ude, sei das genau so vorgesehen.
Gut 30 000 Menschen auf der Straße, das hinterlässt auch bei der CSU Eindruck. So mancher in der Partei befürchtet die Mobilisierung eines Gegners, der bereits geschlagen schien - das so genannte linke Lager. Die Entschlossenheit, das Gesetz am Dienstag im Landtag zu verabschieden, ist trotzdem geblieben. Generalsekretär Markus Blume, der vor der Groß-Demo eine "Zusammenrottung des linken Lagers" gegeißelt hatte, klang am Freitag zwar moderater: Er habe das Gefühl, "an vielen Stellen gibt es noch ein Kommunikationsdefizit".
Auch Innenminister Herrmann sagte: "Wir müssen den Menschen noch viel stärker erklären, was wirklich in dem Gesetz steht und was blanker Unfug ist." Änderungen sind indes keine mehr geplant. Denn anders als beim Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, das auch die eigene Partei spaltete und deutlich nachgebessert wurde, wähnt die CSU-Spitze ihre Mitglieder beim PAG geschlossen auf Kurs.
Und es gibt ja auch solche in der CSU, die sofort in den Gegenangriff umschalten. 40 000 Demonstranten, das seien doch nur 0,3 Prozent der Wahlberechtigten, twitterte der Münchner Bundestagsabgeordnete Michael Kuffer. Der Rest, schloss er daraus, stehe einträchtig hinter der CSU. Kritiker fragten sich daraufhin verwundert, warum die CSU dann Ängste von Pegida-Demonstranten ernst nehme, andere aber nicht. "Ihr könnt einem ja fast schon leidtun mit eurer erbärmlichen Dummheit", rief Franz Josef Strauß einmal Demonstranten zu. Und: "Glaubt aber ja nicht, dass wir auch nur einen Zoll breit zurückweichen werden." Die Tonlage ist heute eine andere. In der Sache sieht es aber danach aus, als halte es Söder mit seinem Vorbild. Bloß nicht nachgeben.