Natürlich ist sie nicht völlig verschwunden, die WAA. Dort, wo die "Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf" einst auf einer Fläche von rund 120 Hektar Atommüll verwerten sollte, steht heute ein Industriepark. Zwei riesige Gebäude, darunter ein für angelieferte Brennstäbe geplantes Lager, werden von BMW genutzt, gleich mehrere Denkmäler und Gedenksteine erinnern an den Bürgerprotest gegen das milliardenschwere Projekt. Auch die Erinnerungen sind geblieben: An die "Pfingstschlacht" 1986 etwa, als die Polizei mit Gummischrot und Blendgranaten gegen die WAA-Gegner vorging. An den musikalischen Widerstand der mehr als 100 000 Besucher des "Anti-WAAhnsinns-Festivals".
Und an Hans Schuierer, den Landrat, der vom zögerlichen Befürworter zum mächtigen Widersacher der Atom-Lobby umschwenkte - und der dem Freistaat kräftig auf die Zehen trat. Schuierer ist heute 87 Jahre alt, doch wenn er von seinem Kampf gegen die Obrigkeit erzählt, klingt er wie ein junger Revolutionär: "Wir haben es trotz der brutalen Vorgehensweise der Staatsregierung geschafft, dass die WAA nicht gebaut wurde", sagt Schuierer, "das ist allein das Verdienst des Widerstandes, von Frauen und jungen Leuten, Studenten, Wissenschaftlern und Künstlern, die mir dabei geholfen haben."
Dabei hat Hans Schuierer noch ein anderes Vermächtnis, eines das, wenn es nach ihm ginge, längst vergessen sein könnte: Es trägt den umständlichen Namen "Art. 3b BayVwVfG" und ist im Volksmund als "Lex Schuierer" bekannt. Das damals bundesweit einzigartige Gesetz wurde 1985 im Landtag mit den Stimmen der CSU beschlossen, um den Bau der Wiederaufbereitungsanlage zu genehmigen - vorbei an den Wackersdorfern und gegen den ausdrücklichen Willen des SPD-Landrats. "Strauß wollte mich ja eigentlich total entmachten", erinnert sich Schuierer, "er wollte mich abservieren."
Doch für eine Amtsenthebung reichten die Vorwürfe nicht, trotz jahrelanger Verfahren und Untersuchungen. Deswegen die "Lex Schuierer", die den sogenannten Selbsteintritt der Aufsichtsbehörden gegenüber untergeordneten Behörden, etwa Landratsämtern, erlaubt. Mit anderen Worten: Einem Landrat, der sich einer politischen Entscheidung partout nicht fügen will, darf der Freistaat ins Handwerk pfuschen - und für ihn unterschreiben. Ein Tabubruch und eine faktische Entmachtung, die in Wackersdorf zwar aufgrund des öffentlichen Drucks folgenlos blieb, aber bis heute unverändert im Gesetz steht.
Einer von denen, die lange für die Abschaffung der "Lex Schuierer" gekämpft haben, ist der frühere SPD-Abgeordnete Franz Schindler. Er brachte einen Antrag, einen Gesetzentwurf nach dem anderen ein, der dem Einzelfall-Paragrafen zu Leibe rücken sollte - vergeblich. "Man kriegt Bauchweh, wenn man so etwas erlebt", sagt Schindler, "die CSU braucht das Gesetz als Drohkulisse." Schließlich wisse man nie, wann der nächste aufmüpfige Landrat kommt. Eine im März 2011 durchgeführte Umfrage des Innenministeriums ergab, dass seit 1985 keine Fälle mehr bekannt wurden, in denen der Selbsteintritt eine Rolle gespielt hätte. Das aber hat sich mittlerweile geändert.
"Das war eine reine Marketingaktion"
Ende 2016 ging in Uehlfeld bei Neustadt an der Aisch ein jahrzehntealter Streit zu Ende. Die Fernwasserversorgung Franken hatte 1997 die Ausweitung eines großen Wasserschutzgebiets gefordert, die meisten Einwohner im Gebiet waren dagegen. Sie befürchteten Wertverluste bei den Immobilien, Verbotskataloge, Bauauflagen und ständige Kontrollen, dabei habe sich die Qualität des Trinkwassers doch gar nicht verschlechtert. Als es nach langen Verwaltungsverfahren und öffentlichen Anhörungen ans Eingemachte ging, probten die Landräte den Aufstand. Zuerst Walter Schneider (Freie Wähler), dann sein Nachfolger Helmut Weiß (CSU) erklärten öffentlich, sie würden die Ausweitung des Schutzgebiets nie im Leben unterschreiben. Am Ende erklärte die mittelfränkische Regierung den Selbsteintritt und entmachtete das Landratsamt. Eine schöne Geschichte einer gescheiterten Revolution, wenn man sie denn glaubt.
"Das war eine reine Marketingaktion", sagt Gabi Schmidt, "so sehe ich das. Der Landrat hätte sich viel stärker wehren können." Die Landtagsabgeordnete der Freien Wähler stammt selbst aus Uehlfeld, sie kämpfte vergeblich gegen das Wasserschutzgebiet und sieht hinter dem Selbsteintritt eine Feigenblatt-Aktion. "Der CSU-Mann hat sein Veto versprochen und damit die Wahl gewonnen", sagt Schmidt, "aber gegen den Selbsteintritt hat der Landrat dann nicht mehr protestiert." Helmut Weiß bestreitet diese Lesart, er habe sich sehr wohl nach Kräften gegen das Ministerium gewehrt - solange es eben ging. Am Ende aber konnte er seiner Entmachtung sogar etwas Positives abgewinnen: "Das seit annähernd 20 Jahren anhängige wasserrechtliche Verfahren hat jetzt die Chance erhalten, zum Abschluss gebracht zu werden."
So erfüllt die "Lex Schuierer" zumindest theoretisch einen neuen Zweck: Landräten, die heikle Entscheidungen aus politischen oder wahltaktischen Gründen lieber einer höheren Instanz zuschieben, schenkt sie einen Sündenbock - den "bösen" Freistaat oder den "sturen" Minister zum Beispiel. "Natürlich kann es die Konstellation geben, dass ein Landrat sich nicht die Finger verbrennen und die Verantwortung abschieben will", sagt Franz Schindler, "so steht der Landrat zu Hause schön da und kann sagen: ,Das haben ja die da oben gemacht!'" Das einst gegen einen mutigen Politiker beschlossene Gesetz wurde so zum Ausweg für ängstliche Kollegen. Den Kampf gegen das umstrittene Gesetz kann Franz Schindler übrigens nicht mehr weiterführen; er schied mit dem Ende der Legislaturperiode aus dem Landtag aus. "Vielleicht", sagt er, "machen es ja die neuen Kollegen."