Inzwischen klingt Volker Ullrich einigermaßen aufgeräumt. Vom Ärger, der ihn in den vergangenen Wochen immer wieder packte, ist am Telefon nichts zu hören. Er müsse nun in Ruhe ein paar Dinge sortieren, sagt der CSU-Politiker aus Augsburg. Am Abend zuvor konnte man auf der Augsburger Wahlparty einen anderen Ullrich erleben. In einer Phase, als sein Einzug in den Bundestag immer unwahrscheinlicher wurde, schnauzte er seine grüne Konkurrentin Claudia Roth vor laufender Kamera an: „Sie sind keine Demokratin!“
Roth war auf Ullrich zugegangen, um ihm zum Sieg im Wahlkreis Augsburg-Stadt zu gratulieren. Zum vierten Mal in Folge hatte er die meisten Erststimmen in der schwäbischen Großstadt eingesammelt und Roth klar geschlagen. Doch Ullrich wies den Handschlag ab, überzog die Grüne mit Vorwürfen. „Sie haben auch 20 Prozent AfD in Deutschland zu verantworten“, schimpfte er, während ein Begleiter versuchte, ihn zu beruhigen. Roth empörte sich: „Jetzt reicht’s aber!“ Auch den Augsburger FDP-Kandidaten ging Ullrich an.
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Der Grund für den Wutausbruch: Trotz seines Wahlkreissiegs fliegt der 49-Jährige aus dem Bundestag. Dort saß er seit 2013, zuletzt als rechtspolitischer Sprecher der CSU. „Das ist ein unfaires und undemokratisches Ergebnis“, sagt er. Möglich macht dieses Phänomen das neue Bundeswahlrecht. Um den Bundestag von 733 Sitzen in der abgelaufenen Legislatur auf 630 zu verkleinern, hat die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft.
Dieser Mechanismus garantierte erfolgreichen Direktkandidaten wie Ullrich ein Abgeordnetenmandat – auch wenn dieses vom Zweitstimmen-Ergebnis der Partei nicht gedeckt war. Zum Ausgleich erhielten andere Parteien zusätzliche Mandate, die logische Folge: Das Parlament blähte sich auf.

Bundestagswahl:Wahlsieger, die nichts gewonnen haben
23 Kandidaten haben in ihren Wahlkreisen gesiegt, ins Parlament ziehen sie trotzdem nicht ein. Dafür sorgt das neue Wahlrecht. Manche finden das unfair und undemokratisch.
Um das zu stoppen, führte die Ampel die sogenannte „Zweitstimmendeckung“ ein: Über die Größe der Fraktionen im Bundestag entscheidet nun allein das Ergebnis der Partei. Die Wahlkreissieger mit dem schwächsten Erststimmen-Anteil kommen nicht mehr automatisch nach Berlin. Insgesamt 23 erfolgreiche Direktkandidaten traf es bei der Wahl am Sonntag, darunter 18 von CDU und CSU. Weil es in Großstädten besonders eng zwischen den Parteien zugeht, scheiterten nicht zufällig Wahlkreissieger aus München, Nürnberg, Frankfurt – und eben Augsburg.
Dort wurde Volker Ullrich zum tragischen Gewinner, weil seiner CSU mit sechs Prozent der Zweitstimmen nur 44 Sitze im Bundestag zustehen. Ullrich wäre Nummer 45 gewesen. Viele Wählerinnen und Wähler würden all das nicht verstehen, sagt Ullrich. „Wissen Sie, wie viele Glückwünsche ich gestern bekommen habe?“
Der Jurist trägt eine Reihe von Beschwerden gegen das Wahlrecht vor: Es enttäusche Wähler in hart umkämpften Stimmkreisen; es benachteilige CDU und CSU, die stets von Überhangmandaten profitierten; und es sortiere Wahlkreissieger mit vergleichsweise schwachen Ergebnissen blind aus, ohne die Strukturen der Wahlkreise zu berücksichtigen. „Das erschüttert das Vertrauen in die Politik“, glaubt Ullrich. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses System im vergangenen Jahr gebilligt. Ullrich setzt darauf, dass die Union das Gesetz in einer neuen Regierung wieder ändert.
Und die Sache mit Claudia Roth? Die Grünen-Politikerin teilt mit, dass sich Ullrich noch am selben Abend entschuldigt habe. Die beiden kennen sich lange, seinen Frust könne sie persönlich nachvollziehen. „Aber solche Entgleisungen dürfen in der politischen Debatte keinen Platz haben.“ Trotz politischer Differenzen müsse man sich nach einer Wahl die Hand geben können. Anders als ihr CSU-Konkurrent hat Roth den Wiedereinzug ins Parlament problemlos geschafft – über die Landesliste ihrer Partei.