Süddeutsche Zeitung

Dialekt und Geografie:Die ganze Wahrheit über Giglberg

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Ortsnamen sind uralte Geschichtsquellen, die davon künden, was vor tausend und mehr Jahren geschehen ist. Für die Orte im Altlandkreis Vilsbiburg gibt es jetzt eine wegweisende wissenschaftliche Dokumentation- die allerdings mit einem Treppensturz erkauft wurde.

Von Hans Kratzer, Vilsbiburg

Es ist wahrlich nicht ungefährlich, als Ortsnamenforscher durchs Land zu streifen, was der Münchner Sprachwissenschaftler Bernhard Stör jederzeit bestätigen kann. Als er sich zuletzt mit den Ortsnamen im Altlandkreis Vilsbiburg beschäftigte, musste er sämtliche Streusiedlungen und Einödhöfe aufsuchen, um Auskünfte einzuholen. Es ist eine mühsame Arbeit, den alten mundartlichen Ausspracheformen nachzuspüren, man braucht nicht nur Gewährsleute, denen die alten Dialektnamen noch geläufig sind, sondern auch ein sensibles Gehör, um die phonetischen Feinheiten und Nuancen in den Ortsnamen exakt dokumentieren zu können. Aber das größte Problem bei dieser Feldforschung sind nicht selten die Bewohner der Höfe, von denen manche von Haus aus misstrauisch sind, wenn ein Fremder in ihr Revier eindringt. Das war schon immer so. Manchmal bleibt die Haustür verschlossen oder ein riesenhafter Hofhund versperrt den Weg oder der Gast erfährt eine barsche Zurückweisung. In einem Fall erschrak Stör im Angesicht einer schimpfenden Bäuerin dermaßen, dass er rückwärts eine Treppe hinunterstürzte. Wer sich der Ortsnamenforschung widmet, muss unbedingt opferbereit sein.

Die Geschichten, die Stör bei seinen jahrlangen Exkursionen erlebt hat, würden einen stattlichen Band füllen. Einmal fragte er eine Bäuerin in einem der vielen auf -öd endenden Orte, wie sie denn den Namen ausspreche. "Sagt man zu eurem Hof nicht Stiatznääd?" Daraufhin sagte sie: "Warum froggsd na, wennsd as soewa woaßt!"

Dass die Erforschung der Ortsnamen im Altlandkreis Vilsbiburg nun nach jahrzehntelanger Arbeit erfolgreich zu Ende gebracht wurde, ist ein großer Glücksfall. Würde man das Projekt erst jetzt anpacken, wäre man viel zu spät dran. Viele Gewährsleute, die noch den alten Dialekt sprachen, sind mittlerweile gestorben. Ihr Art zu reden, gibt es nicht mehr. Überdies sind über die Jahre hinweg viele Häuser und Höfe von Zugezogenen aus der Stadt gekauft worden, die über die alten Traditionen der Gegend nichts mehr berichten können.

Im Falle von Vilsbiburg kam ein glücklicher Umstand dazu. Der in Adlkofen bei Landshut wirkende Pfarrer Monsignore Johann Schober befasst sich seit vielen Jahrzehnten mit den alten Ortsnamen der Gegend. Er dokumentierte sie, erforschte ihre Geschichte in Archiven und Bibliotheken und ordnete das Material. Was noch fehlte, war die wissenschaftlich dokumentierte Phonetik der Ortsnamen. Durch Zufall wurde der Sprachwissenschaftler Stör auf das Material Schobers aufmerksam, was ihn so begeisterte, dass er mehrere Jahre in die wissenschaftlich-phonetische Erforschung der mehr als 1000 Ortsnamen des vor 50 Jahren aufgelösten Landkreises investierte.

Am vergangenen Freitag wurde das Ergebnis der mühevollen Arbeit von Schober und Stör in Form eines großformatigen, fast 300 Seiten starken Buches der Öffentlichkeit vorgestellt. Zweifellos stellt der Band ein Grundlagenwerk für die Ortsnamenforschung dar, auch wenn er vordergründig nur einen regionalen Bezug hat. Man kann es trotzdem nicht genug würdigen: Ortsnamen sind uralte Geschichtsquellen, ihre ältesten Formen künden davon, was vor tausend und mehr Jahren geschehen ist. Sie sind einzigartige Denkmäler, deren Wert viel zu wenig gewürdigt wird.

Allein die Erforschung des in Altbayern 24 Mal auftretenden Ortsnamens Giglberg, der meistens einen Aussichtspunkt (althochdeutsch gucka) beschreibt, habe ewig gedauert, sagt Stör. In vielen anderen Regionen Bayerns wird eine vergleichbare Untersuchung nicht mehr möglich sein. Aus Mangel an Gewährsleuten, aber auch aus Mangel an Wissenschaftlern, die das nötige feine Dialektgehör besitzen und in Lautschrift dokumentieren können, in welcher der unzähligen Variationen etwa ein a oder ein o gesprochen wird.

Wer braucht ein Buch über Ortsnamen in Zeiten, die Sorgen zuhauf produzieren? Es verhält sich freilich nicht anders als bei baulichen Denkmälern, die reihenweise verlorengehen. Mit jedem Verlust kommt dem Land ein Stück Identität abhanden. "Geschichte prägt die Gegenwart", sagt Schober, "und sie beeinflusst die Zukunft." Das hier untersuchte Gebiet ist seit 7000 Jahren besiedelt und voll von bemerkenswerter Geschichte. Die Ortsnamen verraten, was die Menschen hier geleistet haben und wie sich die Landschaft verändert hat. Und oft sind die Ergebnisse überraschend. Sehr viele Orte im Vilsbiburger Land sind nach Frauen benannt, was im Mittelalter selten vorkam, wie Schober sagt. So verraten gerade die Ortsnamen, dass Heimat etwas sehr Dynamisches ist. Wie die in Jahrtausenden gewachsenen Flurnamen sind auch Ortsnamen eine einzigartige Quelle für die Erfahrungswelt und Geisteshaltung unserer Vorfahren. In Bayern gibt es ungefähr 45 000 Siedlungsnamen, zudem mindestens zwei Millionen Namen von Bergen, Äckern und Gewässern.

Das Buch wurde unter anderem vom Verband für Orts- und Flurnamenforschung, vom Bund Bairische Sprache und vom Cimbern-Kuratorium gefördert, das sich intensiv mit den bairischen Sprachinseln in Norditalien beschäftigt, in denen sich besonders alte Namensformen des Bairischen erhalten haben. "Damit Jahrtausende nicht spurlos vergehen", hieß einmal eine Serie im Bayerischen Fernsehen, ein Motto, das auch für das Ortsnamenbuch von Stör und Schober gilt. Es trägt verdienstvoll dazu bei, Teile eines sterbenden Erbes für die Zukunft zu bewahren.

Johann Schober, Bernhard Stör: Ortsnamen und Mundart im Altlandkreis Vilsbiburg, Eigenverlag, Infos: Telefon 08742-8079.

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