Süddeutsche Zeitung

Videoüberwachung:Wie Kameras unser Verhalten verändern

Computer, die Menschen überwachen, Kameras, die automatisch Alarm schlagen. Ein Traum für Sicherheitsbehörden. Doch bietet Videoüberwachung wirklich mehr Sicherheit? Wie intelligent sind Kameras? Können Sie uns identifizieren? Antworten aus der Wissenschaft.

Von Sebastian Gierke

100.000 Menschen fotografiern, innerhalb weniger Stunden, und diese Fotos dann mit Hundertausenden anderen Fotos vergleichen. Unmöglich? Einen Menschen, der sich durch einen großes Gebäude bewegt, von Raum zu Raum, von Stockwerk zu Stockwerk, von Kameras beobachten lassen, lückenlos, ohne dass ein Mensch die Videoüberwachung steuert? Science Fiction? Kamerasysteme, die selbständig dazulernen, außergewöhnliche Situationen erkennen und dann automatisch Alarm auslösen? Utopischer Traum aller Sicherheitsbehörden? Nein, Realität.

Schon vor mehr als zehn Jahren wurden beim amerikanischen Super Bowl in Tampa (Florida) mehr als 100.000 Zuschauer von der Polizei unter die elektronische Lupe genommen. Als sie 2001 ins Stadion strömten, wurden die Menschen - ohne ihr Wissen - von fest installierten Videokameras an allen Eingängen gefilmt. Noch während des Spiels verglichen die Sicherheitsbehörden diese Fotos mit Bildern aus lokalen und staatlichen Verbrecherkarteien. 19 Kleinkriminelle wurden so identifiziert und beim Verlassen des Stadions verhaftet.

Wäre so etwas auch in Deutschland möglich? Und wie schnell geht die technische Entwicklung voran? Antworten auf wichtige Fragen.

Bieten Kameras mehr Sicherheit?

Abschreckung und Prävention, Aufklärung, Stärkung des Sicherheitsgefühls. Das sind die drei Argumente, mit denen der ständige Ausbau der Videoüberwachung meist begründet wird. Argumente, die sich jedoch nicht immer auf Fakten stützen und die alles andere als unumstritten sind.

  • Aufklärung: Fahndungserfolge aus der Vergangenheit zeigen, dass Kameras bei der Fahndung nach Straftätern helfen. Wie viele auch ohne Kameras dingfest gemacht worden wären, lässt sich allerdings nicht überprüfen.
  • Sicherheitsgefühl: Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nimmt durch Videoüberwachung - wenn überhaupt - nur kurzzeitig zu. Das zeigen Studien. "Dieser Effekt verpufft schnell", sagt der Hamburger Sozialforscher Nils Zurawski, der sich seit Jahren mit dem Thema auseinandersetzt. Aus seiner Forschung schließt er: "Die Sicherheit zum Beispiel am Marienplatz speist sich nicht aus Kameras." Eine Kamera könne sogar bestehende Unsicherheit bestärken. "Die Leute sagen: 'Da, eine Kamera! Ich wusste das ja schon immer, hier ist was faul.'"
  • Prävention: "Abschreckungseffekte von Videoüberwachung sind zumindest zweifelhaft, auf jeden Fall aber stark vom Kontext abhängig", sagt Tobias Matzner mit Blick auf Studien zum Thema. Er ist an der Universität Tübingen für das Projekt "Ethik der intelligenten Videoüberwachung" verantwortlich. Tatsächlich sind die Studienergebnisse nicht eindeutig. Vor allem Studien aus Großbritannien weisen einen moderaten, aber signifikanten Rückgang der Kriminalitätsrate aus. Allerdings hauptsächlich in Parkhäusern. Vergleichbare Untersuchungen aus den USA konnten keinen vergleichbaren Effekt feststellen. Matzner zieht daraus die Schlussfolgerung: Videoüberwachung kann keine universelle Lösung sein. Außerdem müsse man davon ausgehen, dass Kriminalität durch Kameras nicht verhindert, sondern nur verdrängt wird. Gerade dieses Phänomen ist aufgrund der Datenlage allerdings schwierig wissenschaftlich zu untersuchen.

Können Kameras uns erkennen und als Person identifizieren?

Seit den zumindest in Europa gescheiterten Versuchen von Facebook, die automatische Gesichtserkennung einzuführen, ist diese Art der Mustererkennung einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gelangt. Software, die Bilder miteinander vergleicht, existiert. So ist es durchaus denkbar, dass Sicherheitsbehörden ihre Lichtbildkartei mit einer Videokamera koppeln - und so automatisch erkennen, ob eine der gespeicherten Personen sich durch das Blickfeld der Kameras bewegt. Allerdings sind Gesichtserkennungsverfahren gerade im Zusammenspiel mit Videokameras noch sehr fehleranfällig. Es kommt oft zu falschen Zuordnungen. So wurde der Pilotversuch in Amerika, der beim Super Bowl 2001 startete, wegen mangelnder Genauigkeit eingestellt. "Den Einzelnen zu identifizieren, das ist im Moment für eine große Masse noch nicht effizient möglich", sagt die Zukunftsforscherin Britta Oertel.

Auch das Bundeskriminalamt hat schon schlechte Erfahrungen gemacht. 2007 installierte es am Mainzer Hauptbahnhof ein Kamerasystem, mit dem Gesichter automatisch erkannt werden sollten. Doch es war in vielen Fällen schlicht nicht hell genug, um einzelne Personen zu identifizieren. Die Erfolgsquote bei guten Lichtverhältnissen lag aber immerhin bei 60 Prozent. "Es gibt Systeme, die können stehende Objekte erkennen", sagt Nils Zurawski, der sich als Sozialforscher mit Informations- und Kommunikationstechnologien auseinandersetzt. Bei Gesichtern funktioniere das aber noch nicht gut genug, so Zurawski. Trotzdem entwickeln Wissenschaftler in Tokio gerade eine Brille, die Software für Gesichtserkennung blockieren kann. Sicher ist sicher.

Millionen Überwachungskameras gibt es auf der ganzen Welt. "Kein Mensch kann all diese Bilder anschauen", sagt Wissenschaftler Nils Zurawski. Deshalb wird weltweit an intelligenten Systemen gearbeitet - eine riesige Marktlücke. Allein das Forschungsministerium hierzulande fördert neun Projekte zur "Mustererkennung" mit mehr als 21 Millionen Euro.

Computerprogramme sollen auch lernen, auffälliges Verhalten zu erkennen. Eine Person, die zu nahe am Bahnsteig steht, Menschen, die abrupte Bewegungen ausführen, ein alleingelassenes Gepäckstück - sofort schlagen die Computer Alarm. Menschen sind dann nicht mehr nötig, um zu beurteilen, was sich gerade im Blickfeld einer Kamera abspielt. Das zumindest ist die Wunschvorstellung von Sicherheitsbehörden weltweit.

Solche Systeme an den jeweiligen Einsatzkontext anzupassen, sei allerdings extrem aufwändig, erklärt Wissenschaftsethiker Tobias Matzner: "Gerade wenn es um öffentliche Plätze geht, ist man mit einer Vielzahl von möglicherweise auch kulturell unterschiedlich geprägten Verhaltensweisen konfrontiert." Selbst wie eng Menschen auf der Straße aneinander vorbeigehen, sei von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Zwischen einer jubelnden und einer aggressiven Menschenmenge zu unterscheiden, stellt einen Computer vor eine kaum lösbare Aufgabe.

Das größte Problem intelligenter Videoüberwachung ist aber, dass die komplexen Algorithmen, nach denen die Auswertungsprogramme vorgehen, nicht völlig neutral sind. Sie sollen Abweichungen von der Norm erkennen, doch "die dafür notwendigen Parameter erfinden Menschen", sagt Sozialwissenschaftler Zurawski. Was eine Abweichung ist, wird dem Computer durch ausgewählte Beispieldaten antrainiert. Diese Beispieldaten bestimmen, was der Computer als normal bewertet - und wann er Alarm schlägt.

Trotz der Unzulänglichkeiten dem werden immer mehr solcher Systeme eingesetzt. Rio de Janeiro will bei der Fußball-WM 2014 eines einsetzten, das russische Sotschi rüstet sich für die Olympischen Winterspiele im kommenden Jahr. In der U-Bahn von San Francisco wird intelligente Videoüberwachung installiert. In New York gibt es sie schon.

Welche Auswirkungen auf die Gesellschaft hat Videoüberwachung?

Videokameras können das menschliche Verhalten verändern. Hinweise darauf, welche Auswirkungen Beobachtung hat, gibt zum Beispiel folgender Versuch: In einem Raum wird ein Foto aufgehängt, die darauf abgebildete Person wird den anwesenden Versuchsteilnehmern als Beobachter vorgestellt. Daraufhin veränderten die Teilnehmer ihr Verhalten. Sie handelten so, wie sie glaubten, dass es der Abgebildete für richtig hielt.

Menschen verändern ihr Verhalten, wenn sie überwacht werden. "Sie passen ihr Verhalten viel stärker an als es nötig wäre", sagt Matzner. Überwachung fördert unbewusst die innere Zensur -. Man passt sich an und merkt es gar nicht. Es lasse sich aber auch der gegenteilige Effekt beobachten, erklärt Matzner. Dann nämlich, wenn Menschen die Systeme überschätzen und sich deswegen unvorsichtiger als sonst verhalten. "Die denken, durch die Kameraüberwachung entsteht eine völlig sichere Welt."

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