Vertriebene:Die Insel der Sudeten

Vertriebene: Gertrud Hofmann, wie sie als Kind im Garten in ihrer Heimat Gablonz spielte, aus der sie 1946 vertrieben wurde.

Gertrud Hofmann, wie sie als Kind im Garten in ihrer Heimat Gablonz spielte, aus der sie 1946 vertrieben wurde.

(Foto: oh)

Wie Neugablonz zu seiner florierenden Glasindustrie kam

Manche Erinnerungen bleiben Gertrud Hofmann bis heute. Die Obstbäume auf der großen Wiese im Garten ihrer Großeltern und der Duft der Schneeglöckchen im Frühjahr. Sechs Jahre war sie alt, als sie ihn zum letzten Mal in der Nase hatte. Das war im Frühjahr 1946. Dann musste sie ihre Heimat von einem Tag auf den anderen verlassen.

Hofmann wurde in Gablonz im heutigen Tschechien geboren. Wie fast überall in den Grenzgebieten zwischen Tschechien und Deutschland wurde dort überwiegend deutsch gesprochen. Bis die Gegend 1945 wieder der Tschechoslowakei zugesprochen wurden. Die etwa drei Millionen deutschsprachigen Einwohner wurden vertrieben. Mit Hofmann verließen etwa 80 000 Einwohner Gablonz. Bewusst verstreuten sie die Alliierten in ganz Deutschland. Die Gablonzer waren berühmt für ihren Glasschmuck, den sie in die ganze Welt exportierten. Doch wer Werkzeug oder Rezepte mitnahm, dem drohte die Todesstrafe. "Diese Industrie sollte nicht mehr in deutscher Hand entstehen", sagt der Historiker Manfred Heerdegen.

Doch an den Ohren von Hofmann baumeln türkise, fein geschliffene Glassteine - Gablonzer Glas. Der Schmuck, für den ihre Heimat berühmt war, wird in ihrem heutigen Zuhause hergestellt: Kaufbeuren. Dort bauten die Vertriebenen aus Gablonz ihre Schmuckindustrie neu auf. Eine sudetendeutsche Insel im Allgäu. Es ist die größte Vertriebenensiedlung Deutschlands.

Der Weg dorthin war schwer. Auch das sind Erinnerungen, die Hofmann nicht vergisst. Wie sie nichts mehr hatte, als einen kleinen Pappmaché-Koffer. Wie sie sich freute, dass ihr Viehwaggon ein Dach hatte, das die Zusammengedrängten auf der langen Fahrt vor Regen schützte. Sie erinnert sich an den Sand in Schwiesow an der Ostsee, wo sie der Zug ausspuckte. Und an den Hunger, als sie fast nichts aß außer Steckrüben. Und dann Kaufbeuren: Über das Rote Kreuz hatte die Mutter erfahren, dass ihre Tante dort hingebracht wurde. Auch der lange vermisste Vater wollte kommen. Er wog nur noch 40 Kilo, als Gertrud Hofmann ihn in die Arme schloss. Bald sollte er wieder Glas drücken, wie früher in seiner Heimat. Dank Erich Huschka - einem Vertriebenen aus Gablonz mit der Mission, die Glasindustrie in Kaufbeuren neu aufzubauen. Überall in Deutschland suchte er mit Flugblättern nach den Gablonzern. Etwa 20 000 kamen. Es entstand eine Stadt in der Stadt. Die Straßen benannten die Vertriebenen genauso wie in ihrer Heimat. Heute hat Neugablonz 13 000 Einwohner. Immer noch gibt es beim Bäcker "Butterwischl". Statt Dillsauce sagen die Leute "Dilldunge". Mittlerweile rümpfen die Kaufbeurer auch nicht mehr die Nase, wenn sie das hören. Immerhin hat die Glasindustrie zeitweise 50 Prozent der Gewerbeeinnahmen eingebracht. Dreimal war Hofmann noch in ihrem alten Dorf. "Das ist meine Heimat, zu Hause bin ich aber in Kaufbeuren", sagt sie. Mehr über die Geschichte dazu gibt es im Isergebirgs-Museum Neugablonz.

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