Süddeutsche Zeitung

Vertreibung:Mit dem Nudelbrett ins neue Leben

Das Haus des Ostens in München zeigt eine Ausstellung mit den Habseligkeiten von deutschen Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die betagten Besitzer bewahren ihre Erinnerungen an die Flucht bis heute wie Schätze auf

Von Hans Kratzer

Die UNO-Flüchtlingshilfe schätzt, dass zurzeit weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Sie fliehen vor Kriegen, Verfolgung und wirtschaftlicher Not, viele verlieren auf ihrer Odyssee ihr Leben. Ein ähnliches Schicksal erlitt am Ende des Zweiten Weltkriegs eine Millionenschar deutscher Flüchtlinge und Heimatvertriebener.

Allein eine Million Sudetendeutsche kamen 1945 und 1946 in bitterster Not nach Bayern, wo sie in Lagern, Privathaushalten und auf Bauernhöfen untergebracht wurden. In vielen Fällen wurden sie hilfsbereit aufgenommen, wegen der beengten Wohnverhältnisse kam es aber auch zu Konflikten. Die Heimatvertriebenen integrierten sich jedoch schnell. In Bayern entstanden quasi aus dem Nichts neue Städte und Stadtteile, wie etwa Neutraubling bei Regensburg, das zu Kaufbeuren gehörige Neugablonz sowie Geretsried (Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen) und Waldkraiburg (Landkreis Mühldorf).

Dieser bedrückende, aber viele Deutsche prägende Abschnitt des 20. Jahrhunderts soll nicht in Vergessenheit geraten, erst recht nicht angesichts der aktuellen Flüchtlingsnot. Das 1970 gegründete Hauses des Deutschen Ostens, eine Einrichtung des Freistaats Bayern in München, soll vor allem das Kulturerbe der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler aus Mittel- und Osteuropa pflegen und weiterentwickeln. Die wichtigste Veranstaltung in diesem Sommer, 70 Jahre nach Kriegsende, ist die soeben eröffnete Ausstellung, deren Titel "Mitgenommen - Heimat in Dingen" bereits deutlich erkennen lässt, worum es geht. Es werden historische Relikte präsentiert, die zwar keine weltgeschichtliche Bedeutung haben, denen aber trotzdem ein einzigartiger historischer Zauber innewohnt. Die Gegenstände sind von den Heimatvertriebenen auf der Flucht oft unter schwierigsten Bedingungen mitgenommen und gerettet worden. Kein Wunder, dass sie für die Besitzer einen unersetzlichen Wert haben. Mit jedem Stück ist eine hohe Emotionalität verbunden. Gerade dieser Umstand verleiht der Ausstellung eine besondere Aura. Die Leihgaben, einige sind oben abgebildet, erzählen durchwegs berührende, manchmal sogar unglaubliche Geschichten.

Rucksack: Die Leihgabe gehört dem 1929 in Tilsit (Ostpreußen) geborenen Peter Alexander. Dessen Familie flüchtete im Januar 1945 auf getrennten Wegen vor den Russen. Der 15-jährige Peter kam auf einem Militärlaster vorwärts, und zwar auf dem vorderen Kotflügel sitzend. Während die übrigen Familienmitglieder Bürger der DDR wurden, stets auf eine Rückkehr nach Ostpreußen hoffend, schlug sich der junge Peter nach Westen durch. Sein strapazierter Fluchtrucksack begleitet ihn sein ganzes Leben. Sogar der nächsten Generation leistete er noch gute Dienste.

Bild im Nudelbrett: Maria Guni aus Siebenbürgen saß 1936 der Malerin Trude Schullerus für das Bild Modell. Arbeiten von siebenbürgischen Künstlern durften bis in die 80er Jahre nicht außer Landes gebracht werden. Deshalb arbeitete Frau Gunis Schwager, ein Schreiner, das gute Stück in ein Nudelbrett ein. So trat es in einem Bus die Reise nach München an. Maria Guni hatte im kommunistischen Rumänien, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, ihre Arbeit verloren.

Pullover: Er gehört dem Historiker Eduard Hlawitschka, der im Mai 1945 als 16-Jähriger in sein Dorf Dubkowitz zurückkehrte, geflüchtet aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Doch das Elternhaus lag verlassen vor ihm. Alles war ausgeplündert, nur ein schwarzes Wolltuch lag noch da. Die Großmutter hatte es gestrickt. Als Hlawitschka dann im Winter ohne warme Kleidung in einem Steinbruch schuften musste, kam ihm eine Idee: Er strickte das Tuch zu einem Pullover um, aus weißen Wollresten arbeitete er ein Norweger-Sternmuster ein. Bei der Ausweisung aus Nordböhmen, beim Studium in Leipzig und bei der Flucht in den Westen war der Pullover immer noch im Handgepäck. Heute liegt das Stück, zur Erinnerung an schwere Zeiten, im Kleiderschrank.

Schachbrett: Es gehörte dem 1901 in Prag geborenen jüdischen Komponisten Hans Winterberg, der ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Als dieses Anfang 1945 von der Roten Armee befreit wurde, blieb er, weil er sich als Sudetendeutscher bekannte, weiter inhaftiert. Er komponierte im Lager mehrere Stücke. Sein Enkel Peter Kreitmeier erhielt 2014 von der Stieftochter Winterbergs diese Notenblätter und das Schachspiel. Er hatte es aus dem Lager mitgenommen. Nach seiner Ausweisung aus der Tschechoslowakei 1947 lebte Winterberg bis zum Tod 1991 in Bayern, er arbeitete für den BR und war als Komponist tätig.

Teddybär: Das Stück aus dem Jahr 1935 gehört Friederike Niesner. Bei der Flucht aus Brünn 1945 nahm sie den Teddybären im Rucksack mit. "Jetzt sitzt er auf der Couch, gut 80 Jahre alt, und schaut einen abgeschabt und etwas löchrig, aber immer noch treuherzig an", sagt Frau Niesner.

Geburtshilfekoffer: Ulrike Zischkas Vater war als Arzt in Franzensbad im Egerland tätig. Dort wurde sie 1945 geboren. Eine tschechische Patientin des Vaters versorgte die Familie aus Dankbarkeit mit Eiern und Milch, was für Säuglinge lebensnotwendig war. "Der Geburtshilfekoffer rettete nicht nur dem Sohn der Tschechin das Leben, sondern auch mir", sagt Ulrike Zischka. Der Vater nahm ihn bei der Ausreise mit, Frau Zischka hat ihn aufbewahrt.

Ehrendiplom: 1937 gewann die Mutter von Walter Rösner-Kraus das Ehrendiplom "Miss Czechoslovakia". 1944 wurde die Kleidermacherin zur Berufsschullehrerin ernannt. 1946 wurde sie als Witwe zusammen mit ihrem 21 Monate alten Sohn vertrieben. Sie wurde Lehrerin an der Berufsschule in Fulda, sie starb 1996. Ihre Urkunden hatte sie im Vertreibungsgepäck.

Silberbesteck: Ernst Schroeder erhielt das dreiteilige Besteck aus 800er-Silber von den Eltern als Geschenk. Es stammt aus Teplitz-Schönau, dort war der Vater Standortarzt. Am Kriegsende floh die Mutter mit ihren drei Kindern - das jüngste war drei Monate alt - zu Fuß Richtung Westen. Das Silberbesteck wurde im Kinderwagen versteckt, unter der Gummi-Einlage des Säuglings. Heute ist Ernst Schroeder Vorsitzender der Landesgruppe Bayern der Pommerschen Landsmannschaft.

Holzpferd: Die Familie Jaklin besaß im Sudetenland einen Bauernhof. 1946 wurde sie von dort vertrieben. Der zweijährige Josef besaß zwei Holzpferdchen. Er durfte wegen Platzmangels nur eines mitnehmen, er entschied sich für den kleinen Holzschimmel. Josef Jaklin lebt heute auf seinem Bauernhof bei Scheyern.

Mitgenommen - Heimat in Dingen, Ausstellung im Haus des Deutschen Ostens, Am Lilienberg 5, München. Bis 9. Oktober, Mo-Do 10-20 Uhr, Fr und Ferienzeit 10-15 Uhr. Tel. 089/4499930. Der gleichnamige, reich bebilderte Katalog ist im Volk Verlag erschienen und kostet 14,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 19.06.2015
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