Verrohung der Gesellschaft:Beschimpft, gebissen, geschlagen

Rettungskräfte demonstrieren für mehr Respekt

Mehr Respekt und keine Gewalt fordern Rettungskräfte auch öffentlich und bundesweit, wie bei einer Demonstration in Franktfurt/Main.

(Foto: Andreas Arnold/dpa)

Das Thema Angriffe auf Rettungskräfte ist allgegenwärtig - statistische Daten für die Debatte sind schwer zu erheben

Von Johann Osel

Sanitäter, Polizisten und andere Helfer beklagen auch in Bayern schwindenden Respekt für ihre Jobs und Übergriffe in Einsätzen. Obwohl das Thema inzwischen öffentlich diskutiert wird, fehlt eine statistische Basis dazu. Und das dürfte zunächst auch so bleiben. Die offizielle Kriminalstatistik, Studien oder Meldesysteme einzelner Organisationen liefern kein einheitliches Bild - was auch an der wohl hohen Dunkelziffer liegt. Hinzu kommt die individuelle Wahrnehmung: Während die eine Einsatzkraft Widerworte oder sogar ein Handgemenge gut verkraftet, fühlen sich andere womöglich stark davon betroffen.

Das weiß man beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK). Es gelinge nicht immer, Kollegen nach Attacken "wieder an den Beruf heranzuführen", sagte Thomas Stadler, Abteilungsleiter Rettungsdienst; auch "viele kleine verbale Angriffe können mürbe machen". Dennoch seien in einem internen System 2018 nur 99 Fälle bei 1,9 Millionen Einsätzen freiwillig gemeldet worden. Jeder Fall sei "einer zu viel", aber man müsse das "in der Relation sehen". Eine Nachfrage des Innenministeriums, ob man zu einer übergreifenden Statistik beitragen könne, habe man in Absprache mit anderen Einrichtungen abgelehnt. Es bringe nichts, "eine Statistik ins Land zu geben, die kaum aussagekräftig ist, die wieder die Dunkelziffer nicht abbildet". Stadler sprach am Montagabend mit Praktikern und Wissenschaftlern bei einer Podiumsdebatte der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Thema: "Über die Verrohung der Gesellschaft".

Befeuert wird die Diskussion immer wieder durch spektakuläre Fälle. Erst am Wochenende, wie auch Stadler erwähnte, in Neu-Ulm: Ein 23-Jähriger schlug einem Sanitäter ins Gesicht, würgte und biss ihn in den Arm; auch ein Notarzt und ein Polizist bekamen bei dem Einsatz Faustschläge ab. Feuerwehren und medizinisches Personal im Freistaat leiden ebenfalls oft unter Attacken. Die Gewaltbereitschaft von Patienten und Angehörigen vor allem in Notaufnahmen nimmt laut Bayerischer Krankenhausgesellschaft zu, auch weil manche auf Vorzugsbehandlung pochten. In normalen Wohngegenden und keineswegs nur in sozialen Brennpunkten, so Stadler vom BRK, könne es wie aus dem Nichts zu Vorfällen kommen. Nicht selten geschehe das "aus dem Krankheitsbild heraus". Verwirrte Menschen empfänden Helfer, wenn diese sie anfassen, plötzlich als Täter. Zentral seien aber auch Drogen- und Alkoholeinfluss.

Genauere Daten gibt es bei der Polizei, hier veröffentlicht das Ministerium jährlich ein "Lagebild": 2017, dem letzten verfügbaren Jahr, gab es in Bayern 7334 Fälle von physischer und psychischer Gewalt gegen Polizeibeamte. 68 Prozent der Aggressoren, meist männlich, standen unter Alkohol oder Drogen. Gut 30 Prozent waren Ausländer, was sich ungefähr mit dem Anteil der nicht-deutschen Tatverdächtigen an der Gesamtkriminalität 2017 deckt. Das nächste Lagebild, für 2018, kommt im Sommer. Die neuen Zahlen könnten ungewöhnlich hoch sein, weil Strafmaß und Anwendbarkeit für Angriffe 2017 verschärft wurden. "Bespucken ist Standard", sagte Norbert Radmacher, Münchens neuer Polizeivizepräsident, auf dem Podium: Er berichtete von einem Täter, der sich dabei im Wissen um eine ansteckende Krankheit bewusst die Lippe blutig gebissen habe. Ein Gegenrezept: Das positive Bild einer "Bürgerpolizei" müsse konsequent vermittelt werden. Stadler verwies auf Kampagnen wie des Aktionsbündnisses "Lass retten!"

Die Debatte bei der Stiftung behandelte "Verrohung" als Phänomen, das etwa auch die Sprache oder die digitale Welt betrifft. Der Deggendorfer Gymnasialleiter Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, sah Online-Gruppen von Schulklassen als Problemfeld. Mobbing im Bus ende bei der Ankunft, am Pausenhof beim Gong. Digital ende es nie. Er nannte als Beispiel Pornobilder, in die Köpfe von Mitschülern montiert würden. Der Münchner Sozialpsychologe Dieter Frey machte in einem Vortrag Ursachen für Verrohung aus. Einerseits einen "Wertewandel", das Ausleben individueller Freiheit münde oft in Narzissmus. Andererseits fühlten sich Menschen durch Verlustängste und die globalisierte Welt "abgehängt". Diesen "Kontrollverlust" glichen sie aus, indem sie im Zwischenmenschlichen rabiat die Kontrolle wiederherstellten. Wobei Mitdiskutant Stadler dies einschränkte: Es seien "nicht immer die vermeintlich Hoffnungslosen", als Beispiel nannte er den Autofahrer mit teurem Wagen, der "dem Feuerwehrmann ans Schienbein fährt".

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