Vermisster Soldat:Der lange Weg ins Grab

Beerdigung Pilot George Smith

Die Grabsteine auf dem britischen Militärfriedhof in Dürnbach sind schlicht. Wappen, Name, Dienstgrad, das ist alles.

(Foto: Manfred Neubauer)

Raymond White stürzt 1943 mit seinem Bomber ab. Irgendwo in Deutschland, das ist alles, was seine Familie weiß. Erst sieben Jahrzehnte später bekommt sie einen entscheidenden Tipp.

Von Lisa Schnell, Gmund

Der Nebel steigt vor dem Karwendel auf. Braungefleckte Kühe grasen in der Sonne. Da schallen ungewohnte Laute durch die Morgenluft über Dürnbach am Tegernsee: lang gezogene, leicht quäkende Töne vereinen sich zu einer traurigen Melodie. Sie kommen von einem Dudelsack eines Soldaten in Prachtuniform. Sein Kragen ist goldbestickt, die Silberschnallen seiner schwarzen Lackschuhe leuchten, der braune Schottenrock wiegt leicht im Wind. Hinter ihm weiße Grabsteinreihen fast bis zum Horizont.

Vor ihm sechs Soldaten, an ihren Ärmeln das Zeichen der britischen Luftwaffe, auf ihren Schultern: ein Sarg - eingehüllt in die britische Flagge, blau-weiß-rot. Wie in Zeitlupe lässt die königliche Garde den Sarg an weißen Tauen in das dunkle Erdreich gleiten. Linda Ralph tupft sich die nassen Augen, ihre Tochter nimmt ihren Arm.

Am Mittwoch hat sie ihren Onkel George Smith beerdigt - mehr als 70 Jahre nach seinem Tod. Der Schotte war Pilot eines britischen Bombers, der 1943 in Südhessen zu Boden ging. Seine letzte Ruhe findet er in Bayern auf dem englischen Militärfriedhof in Dürnbach. "Dieser Tag ist das wunderbare Ende einer langen Suche. Es ist sehr bewegend", sagt Linda Ralph. Jahrelang wühlte sie in Archiven, wollte so ihrem Onkel nahe kommen. Erst 2009, als ein Lokalhistoriker, der den Bomber aufspürte, an der Absturzstelle auch einen Beckenknochen fand, war klar: Ihr Onkel wird ein Grab haben, sie einen Ort für ihre Trauer.

"Meine Großmutter ist nie über seinen Tod hinweg gekommen"

Wie wichtig das ist, weiß auch Gary White. Auch er steht an einem offenen Grab in Dürnbach. Zusammen mit etwa 20 Angehörigen, von denen einige sogar aus Südafrika angereist sind. Sie trauern um ihre Onkel, Brüder, Cousins, fünf Crew-Mitglieder des britischen Bombers ED427. Mehr als 70 Jahre nach ihrem Tod stehen ihre Namen nun endlich auf einem Grabstein, auch der von Raymond White.

Vermisster Soldat: Das Schwarz-Weiß-Foto von Raymond White auf der Anrichte seiner Großeltern in England bot jahrzehntelang die einzige Möglichkeit des Gedenkens.

Das Schwarz-Weiß-Foto von Raymond White auf der Anrichte seiner Großeltern in England bot jahrzehntelang die einzige Möglichkeit des Gedenkens.

(Foto: privat)

Sein Neffe Gary kannte ihn nur von einem Schwarz-Weiß-Foto auf der Anrichte seiner Großeltern in England. Es zeigt einen jungen Mann in Uniform, die blonden Haare zurückgekämmt. "Meine Großmutter ist nie über seinen Tod hinweg gekommen", sagt Gary White. Er sei verschollen, das Flugzeug vermisst, irgendwo in Deutschland. Mehr wusste sie nicht. Es gab keinen Ort für sie, um Lebewohl zu sagen.

Jetzt hier auf dem Friedhof zu stehen, den Namen ihres Sohnes auf einem Grabstein zu lesen, das hätte ihr sehr viel bedeutet, sagt White. Sein Vater, mittlerweile 85 Jahre alt, sei überglücklich gewesen, als er vor drei Jahren diesen Anruf aus Deutschland bekam und hörte, was er schon lange nicht mehr zu hoffen wagte: Die Überreste seines Bruders sind gefunden. Am anderen Ende der Leitung saß Uwe Benkel.

Woher der entschiedende Tipp kam

Benkel ist 54, hat eine dünne Stahlbrille auf der Nase und arbeitet eigentlich für eine Versicherung in Rheinland-Pfalz. In seiner Freizeit aber zieht er mit einer Sonde durch Deutschland auf der Suche nach vermissten Flugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ob darin Engländer, Deutsche oder Amerikaner saßen, ist ihm egal. Die Lücke, die sie in einer Familie hinterlassen, ist die gleiche. Der Dank der Angehörigen sei seine Motivation, sagt Benkel. Er und sein Team suchten in Seen und auf Gletschern. Die Maschine, in der auch Raymond White starb, buddelten sie auf einem Acker aus.

Den Tipp bekam Benkel von Peter Menges aus Laumersheim nahe Mannheim. 1943 war Menges 14 Jahre alt. An den Luftkrieg erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen. Manchmal schlich er sich in einer Bombennacht aus dem Keller. "Es war traurig, aber auch ein Schauspiel", sagt er. Das Dröhnen der Motoren über den Feldern, das Donnern von hundert, zweihundert, sechshundert Fliegern über seinem Kopf. Die Zielmarkierungsbomben, leuchtend hell wie fliegende Christbäume, und die riesigen Scheinwerfer der deutschen Luftabwehr, die vom Boden breite Lichtkegel in den schwarzen Himmel stachen.

Wie Suche nach den Vermissten ablief

Auch am 17. April 1943 schaut Menges schaurig-fasziniert in die Nacht. Er sieht ein Flugzeug, hört die Geschütze vom Boden. Das brennende Cockpit, ein Feuerschweif, eine Explosion. Am nächsten Tag geht er zu der Stelle, wo der britische Bomber aufprallte. Ein Trümmerhaufen, abgesperrt von der Luftwaffe. "Die haben es weggeräumt, dann war das für die erledigt", sagt Menges. Ihn selbst hat der Absturz nie losgelassen. Woher kamen die Piloten? Wer waren sie und was passierte mit ihren Überresten?

Laut seinen Nachforschungen brach der Lancaster-Flieger ED427 in dieser Nacht mit 554 anderen Bombern über den Ärmelkanal zum Angriff nach Deutschland auf. 227 von ihnen bombardierten Mannheim, es gab 128 Tote und 269 Verletzte in der Nacht. Die ED427 aber hatte ein anderes Ziel: die Panzerwerke von Škoda im tschechischen Pilsen. Doch sie verfehlten es. Statt der Rüstungsfabrik trafen sie eine Landesnervenanstalt im Nachbarort und sollen 200 Menschen getötet haben.

An Bord der Lancaster waren sieben junge britische Soldaten wie Funker Raymond White, kaum einer älter als 25. Es war ihr zweiter Einsatz, bei ihrem ersten über Berlin sollen sie das einzige Anfängerteam gewesen sein, das wieder zurückkehrte. Im April 1943 stürzten sie auf dem Heimweg nach Großbritannien ab, genau wie wohl 39 weitere Flieger der Gruppe Pilsen.

Den Nachforschungen Menges zufolge haben die Deutschen die gefundenen Leichenteile in zwei Särge verteilt, sie als die Überreste der sieben Soldaten ausgegeben und im Mannheimer Hauptfriedhof vergraben. Nach dem Krieg, 1947, soll ein britisches Suchkommando sie wieder hervorgeholt und festgestellt haben, dass es sich nur um die Überreste zweier Crew-Mitglieder handelt. Die wurden auf dem englischen Militärfriedhof in Dürnbach begraben, ihre restlichen fünf Kameraden blieben verschollen.

Wie die Leichen entdeckt wurden

Peter Cunliffe, ein britischer Militärhistoriker, der ein Buch über den Angriff auf Pilsen von 1943 geschrieben hat, meint aber, schon 1947 hätte die britische Luftwaffe wissen können, wo die ED427 abgestürzt ist. Haben es sich die Briten leicht gemacht und nicht ausgiebig genug gesucht? Der britische Historiker Cunliffe deutet das an, sein deutscher Kollege, Luftkriegsexperte Dietmar Süß, kann es sich nicht vorstellen. "Die Briten haben sich mit großem Aufwand um die verschollenen Soldaten gekümmert", sagt er. Egal, ob sie die restlichen Crewmitglieder nicht finden wollten oder nicht konnten: Klar ist, sie blieben verschollen - bis Menges mit seinen Erkenntnissen zu Vermisstenforscher Uwe Benkel kam.

2012 rückte der mit seinem Team auf dem Acker an, unter dem der Bomber liegen sollte. Seine Sonde schlug aus, ein Gärtner aus dem Ort stellte seinen Bagger zur Verfügung. Vorsichtig grub die große Schaufel Schicht für Schicht ab. Nach zwei Metern stieß sie auf Bauschutt, mit dem 1943 wohl der Trichter aufgefüllt wurde, nach vier Metern dann der Steuerknüppel, Fallschirmteile, Schuhe. Und schließlich hatte Benkel menschliche Knochen in der Hand.

Drei Jahre dauerte es danach noch, bis die Überreste der mehr als 70 Jahre vermissten Soldaten beerdigt wurden. Zu lange, findet Benkel. Er denkt dabei an Alf Bone, den Bruder des Piloten der Lancaster ED427. Auch er habe jahrzehntelang auf Nachricht gehofft, in brüchigem Deutsch dankte er Benkel für seine Arbeit. "Er wär so gerne bei der Beerdigung dabei gewesen", sagt Benkel. Doch Bone starb vergangenes Jahr. Die Überreste korrekt zu identifizieren, koste nun einmal viel Zeit, heißt es vom britischen Militär.

Für Gary White kam die Nachricht noch früh genug. Er besuchte auch die Absturzstelle. Ein paar kleine Aluminiumteile von dem Flieger, in dem sein Onkel starb, nahm er mit nach England. "Es war, als wenn ein Stück von Raymond wieder zurück nach Hause gekommen wäre", sagt er.

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