Süddeutsche Zeitung

Verkehr:So funktioniert die fahrerlose U-Bahn in Nürnberg

Wie von Geisterhand gezogen fahren in Nürnberg Bahnen unter der Stadt, seit bald zehn Jahren. Für Touristen eine Attraktion, für Kinder ein Vergnügen. Für andere Städte - ein Modell?

Von Claudia Henzler, Nürnberg

Für viele Nürnberger ist es nichts Besonderes mehr, dass ihre U-Bahn - als einzige in Deutschland - wie von Geisterhand fährt. Doch Kinder drängen in den Zügen ganz nach vorne, dahin, wo sich normalerweise eine Fahrerkabine befindet. Sie kleben fast an der Scheibe, wenn der Zug endlich losfährt, versuchen im dunklen Tunnel den nächsten Bahnhof auszumachen und fiebern mit, bis die Bahn an der richtigen Stelle zum Stehen kommt. Warum das nicht selbstverständlich ist, wie Nürnbergs fahrerlose Bahn im Vergleich abschneidet und wie das Ganze funktioniert, zeigt der folgende Überblick.

So funktioniert's

Im Normalfall läuft alles ohne menschliche Unterstützung. Ein Computersystem regelt und überwacht Züge und Gleise. Dazu wurden Fahrzeuge, Strecke und Stellwerke miteinander vernetzt. In den Fahrzeugen selbst steuert ein Rechner das Losfahren, die Fahrt zwischen zwei Bahnhöfen, das automatische Anhalten und das Öffnen der Türen. Gegenstück ist ein zentrales Betriebssystem, das aus mehreren Komponenten besteht. Im System ATC (Automatic Train Control) ist der Fahrplan hinterlegt, dazu gehören ATC-Rechner in den Stellwerken entlang der Strecke, die den Fahrweg überwachen.

Außerdem gibt es eine Stellwerks-Software, die Signale und Weichen steuert, und ein Sicherheitssystem, das Gefahren auf der Strecke registriert. Die Rechner in den Bahnen tauschen ständig Daten mit dem System aus. Dadurch wird beispielsweise verhindert, dass eine Bahn zu dicht auf einen voranfahrenden Zug auffährt und sichergestellt, dass die U-Bahn bremst, wenn etwas aufs Gleis fällt.

Alles im Blick

400 Quadratmeter groß ist die Schaltzentrale, in der Nürnbergs Nahverkehr gesteuert wird. Die beiden fahrerlosen Linien U 2 und U 3 werden an drei Arbeitsplätzen überwacht. Jeder der Schreibtische hat die Form eines Halbkreises und trägt zehn Monitore, auf denen zum Beispiel ein bestimmter Zug als schematische Zeichnung zu sehen ist. Der Mitarbeiter muss nur draufklicken, um eine Tür zu entsperren. Der Nachbarbildschirm zeigt Livebilder aus dem Waggon. Vor den Mitarbeitern hängt eine startbahnähnliche Anzeigentafel, auf der Linien den stilisierten Verlauf der Gleise zeigen. Einzelne Bereiche leuchten rot (hier steht ein Zug), gelb und grün (Streckenabschnitt ist für den nächsten Zug freigegeben) auf. Wenn's sein muss, können die Mitarbeiter, die früher selbst U-Bahnen gesteuert haben, Züge anhalten, einzelne Türen entsperren oder Hilfe schicken. Sonst beobachten sie nur.

Keine Angst vor Tauben

In den Bahnhöfen der fahrerlosen Linien U 2 und U 3 überwachen Sensoren den Gleisbereich, sie funktionieren wie Lichtschranken. Damit das System nicht wegen eines herumfliegenden Papiers oder einer Taube Alarm schlägt, kommt eine spezielle Software zum Einsatz, die beispielsweise das Muster einer fliegenden Taube erkennt. Wird der Alarm ausgelöst, schrillt in der Leitstelle ein Warnton, auf einer Anzeigentafel blinkt der betroffene Bahnhof rot und Kamerabilder aus der Station werden automatisch auf einen Monitor geschaltet. Der Leitstellen-Mitarbeiter kann sofort nachschauen, was hier vor einigen Sekunden passiert ist, und die Strecke freigeben, wenn es harmlos war.

Im Zweifel Handbetrieb

Frühere U-Bahn-Fahrer arbeiten nicht nur in der Leitstelle, sie sind auch entlang der Strecken postiert. Jeder Mitarbeiter ist während seiner Schicht für drei Stationen zuständig. Bei Pannen sollen spätestens nach zehn Minuten ein Service-Mitarbeiter zur Stelle sein. Zu Stoßzeiten übernehmen sie auch mal die Abfertigung der Züge. Dann schließen sie die Zugtüren wie in alten Zeiten per Knopfdruck und geben die Fahrt frei. Mittags zum Beispiel, wenn Kinder auf dem Bahnsteig toben, oder nach Großveranstaltungen. Das geht aber nur, wenn die Leitstelle es zulässt.

Anfangsschwierigkeiten

Als die fahrerlose U-Bahn 2008 in Betrieb ging, hatte Siemens Neuland betreten. Denn Nürnberg war zwar nicht die erste Stadt, die auf Fahrer verzichtete, aber auf Absperrwände. Solche Wände mit automatischen Türen riegeln normalerweise den Zugang zum Gleis ab. Nürnbergs offenes System war der Grund, aus dem sich der eigentlich für 2006 geplante Starttermin um zwei Jahre verschob. Die Absperrungen fehlen, weil die fahrerlose U-Bahn zunächst im Mischbetrieb eingesetzt wurde. Auf einem Teil der Strecke waren auch Züge mit Fahrern unterwegs. Das offene System hat Siemens später auch auf der Linie 4 in Budapest installiert.

Es wird geübt

Den Grad der technischen Herausforderung kann man von dem umfangreichen Testprogramm ableiten, das die Nürnberger Verkehrs-Aktiengesellschaft (VAG) derzeit im Norden der Stadt fährt. Dort wird die fahrerlose Linie U 3 demnächst um zwei Stationen erweitert. Die Eröffnung ist im Mai geplant. Was das Bauliche angeht, ist die 1,1 Kilometer lange Strecke seit Monaten fertig. Im August begannen dann technische Tests. Siemens, der Hersteller des automatischen Systems, überprüfte beispielsweise bei Pegelmessfahrten, ob die Züge an jedem Punkt der Strecke mit Informationen aus dem System versorgt werden und Daten zurücksenden können.

Seit Jahresanfang simulieren leere U-Bahnzüge auf dem neuen Abschnitt in Richtung Klinikum Nord und Nordwestring den späteren Betrieb. Die VAG testet dabei, ob alle Komponenten der Technik so zusammenarbeiten, wie sie sollen. Etwa 200 Szenarien gehen die VAG-Mitarbeiter durch. So muss ein Zug beispielsweise im Bahnhof bleiben, wenn das System in der nächsten Station eine Störung meldet.

Seltene Panne

Im Januar 2017 kam es zu einem ungewöhnlichen Vorfall: Fahrgäste mussten die U 2 verlassen und durch den Tunnel zum nächsten Bahnhof laufen. Der Zug hatte wegen einer Störungsmeldung sofort gebremst und war an einer Stelle zum Stehen gekommen, an der das Fahrzeug nicht mit Strom versorgt wurde. Solche "Stromlücken" gibt es laut VAG in vielen Bereichen, etwa an Weichen. Die Leitstelle wollte die gestrandete Bahn mit einem weiteren Zug anschieben, der Bergungsversuch scheiterte aber zunächst. Grund war offenbar menschliches Versagen: Jemand habe vergessen, einen Schalter umzulegen, weshalb auch der zweite Zug ohne Strom da stand. Schließlich wurden die Fahrgäste gebeten, etwa 50 Meter bis zur nächsten Haltestelle zu laufen. In der Leitstelle ärgert man sich über diesen Vorfall und ist sicher: Er wird sich nicht wiederholen.

Fahrerlos im Vergleich

Günther Wimmer, stellvertretender Leiter der VAG-Leitstelle, kann täglich beobachten, ob die U-Bahn mit oder ohne Fahrer besser funktioniert. Er hat den direkten Vergleich, weil die U 1 als älteste von drei Nürnberger Metro-Linien noch im konventionellen Betrieb läuft. Wimmers Bilanz: Die fahrerlosen U-Bahnen auf den Linien 2 und 3 seien pünktlicher, sie hätten weniger technische Defekte und blieben weniger oft stehen. Sie seien zu mehr als 99 Prozent pünktlich, die U 1 nur zu 97 Prozent. Der wichtigste Vorteil der fahrerlosen U-Bahn ist aus Sicht der VAG, dass die Züge dichter aufeinanderfolgen können als im konventionellen Betrieb. In Stoßzeiten fährt alle 100 Sekunden ein Zug ein. Das sei nur bei vollautomatischem Betrieb möglich. Außerdem: Bei Bedarf können in kürzester Zeit zusätzliche Züge eingesetzt werden. Sie stehen auf Abstellgleisen an mehreren Stellen im Bahnnetz bereit.

Wie es dazu kam

Der Nürnberger Stadtrat hatte 1994 entschieden, eine weitere U-Bahnlinie zu bauen. Die neue U 3 würde sich einen zentralen Streckenabschnitt mit der U 2 teilen müssen. Um dichte Taktfolgen zu erreichen, schien der Stadt eine Automatisierung sinnvoll, was eine Machbarkeitsstudie bestätigte. Es folgte eine europaweite Ausschreibung, die Siemens gewann. Laut VAG wurden 610 Millionen Euro investiert. Davon 360 Millionen Euro für Dinge wie Tunnel, Stromversorgung und Gleise, die jede U-Bahn braucht. Die Technik für den fahrerlosen Betrieb auf zwei Linien kostete 110 Millionen Euro, die 37 neuen Fahrzeuge 140 Millionen Euro. Land und Bund beteiligten sich an den Kosten, wobei die Streckentechnik für den vollautomatischen Betrieb sogar zu 87,5 Prozent gefördert wurde. Nach zehn Jahren steht eine Folgeinvestition ins Haus: Die Stadt plant, das Bahnsteigsicherungssystem für gut fünf Millionen Euro zu erneuern.

Und die Münchner?

Die Landeshauptstadt müsste ein ausgedehntes Streckennetz nachrüsten, wenn sie auf fahrerlos umsteigen würde. Bisher kam das aus wirtschaftlichen Gründen nicht infrage, sagt Matthias Korte, Sprecher der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG. Bei den Personalkosten seien kaum Einsparungen zu erwarten, weil auf der Strecke viele Servicekräfte eingesetzt werden müssten. Er erwarte sich vom fahrerlosen Betrieb auch keine Taktverkürzung - schon jetzt sei ein Zwei-Minuten-Abstand möglich. Aus Sicht der MVG geben die stark frequentierten Innenstadt-Bahnhöfe - im Hinblick auf Evakuierungswege und -zeiten - keine dichteren Zugfolgen her. Die Münchner U-Bahn arbeitet dabei schon weitgehend automatisch: Der Fahrer schließt die Türen und gibt den Fahrauftrag, den Rest übernimmt ein "Linienzugbeeinflussung" genanntes System. Die MVG will das Thema aber im Blick behalten, sagt Korte: "Neubaustrecken und neue Fahrzeuge lassen wir vorsorglich so planen, dass eine spätere Entscheidung für ein fahrerloses Fahren möglich wäre."

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Quelle:
SZ vom 01.04.2017/bhi
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