Süddeutsche Zeitung

Sicherheit im Verkehr:Wenn nach dem Unfall ein Stuhl in der Klasse leer bleibt

Fast 100 junge Erwachsene kommen jedes Jahr in Bayern bei Autounfällen ums Leben. Oft passieren die Unfälle auf dem Land.

Von Andreas Glas und Johann Osel

Die Scheibenwischer haben gut zu tun, draußen peitscht der Schneeregen. Hauptkommissar Königseder, 54, steuert den Kastenwagen den Anstieg hinauf in einen kleinen Ort im Bayerischen Wald. Da vorne, sagt Königseder, und deutet durch die Windschutzscheibe, da vorne in der Kurve sei es passiert.

Er war damals 23, war Beifahrer im Auto einer Freundin, einem VW Derby, seine heutige Frau auf der Rückbank. Von oben ist ein Auto gekommen, mit Tempo 100, innerorts. Das Auto hat die Kurve nicht gekriegt, ist frontal in den Derby gekracht. "Ab dem Zeitpunkt weiß ich nichts mehr", sagt Werner Königseder.

Eine Woche später kam er in der Klinik zu sich, er hatte eine Blutung im Gehirn, wäre fast gestorben. Auch seine zwei Mitfahrerinnen überlebten, genauso wie der Unfallverursacher, ein junger Kerl, keine 25. Heute ist Königseder längst wieder gesund, heute tut er alles dafür, um solche Unfälle zu verhindern. Der Polizist geht in Schulen, als Verkehrserzieher, und erklärt den Fahranfängern und denen, die bald den Führerschein machen, wie gefährlich es auf den Straßen ist.

Erst recht hier im Bayerwald, wo es überall Kuppen und Kurven gibt und die Bäume am Straßenrand dicht beieinander stehen. Auf dem Land gehört der Führerschein genauso zum Erwachsenwerden wie der Umgang mit dem Tod. Der Tod ist auf Bayerns Landstraßen allgegenwärtig - und auf den Marterln am Straßenrand stehen häufig die Namen von Fahranfängern, zu erkennen am Geburts- und am Sterbedatum.

"Unvorstellbares Leid." So nennt es Alfons Weber, Bürgermeister von Markt Rettenbach im Unterallgäu, wo man immer noch kaum fassen kann, was vergangenes Wochenende passiert ist. Gegen 23 Uhr kam ein 18-Jähriger mit dem Wagen von der Straße ab, prallte gegen einen Baum. Mit ihm starben drei Insassen im Alter von 16 und 17 Jahren, ein weiterer junger Mann wurde schwer verletzt.

Das Fahrzeug war durch den Aufprall derart zerrissen worden, dass die Rettungskräfte auf den ersten Blick zwei Unfallautos vermuteten. Die jungen Leute, alle aus einer kleinen Gemeinde, kamen von einer Weihnachtsfeier, wollten weiter zu einem Jugendtreff. Nasse Fahrbahn, überhöhtes Tempo, ob Alkohol im Spiel war, ist unklar. "Sie fehlen der Gemeinschaft", sagt der Bürgermeister, "und man hat es jedem angesehen, dass es eine ganz große Traurigkeit gibt."

94 - so viele junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren sind im vergangenen Jahr bei Unfällen auf Bayerns Straßen gestorben, hinzu kommen 1752 Schwerverletzte. Die Zahl der Toten mag seit Jahren sinken, die der Unfälle tut es nicht; und Statistik ist kein Trost. Montags sind Lokalzeitungen voll mit Schreckensmeldungen, die Opfer sind jung, oft passieren die Unfälle auf dem Land.

Erst im Oktober gab es ein schwarzes Wochenende, vier Verkehrstote an zwei Tagen, etwa im Landkreis Freyung-Grafenau und im Berchtesgadener Land, jeweils Anfang 20. "Der hat sich darennt", heißt es dann. In diesem Satz schwingen die Hauptursachen mit: schnelles Fahren, Risikobereitschaft, Unachtsamkeit. Oder eben: jugendlicher Leichtsinn.

"Der hat sich darennt." Man muss den Satz vor allem dort häufig sagen, wo schon deshalb viel gefahren wird, weil ohne Auto nichts geht. Wo der Führerschein unverzichtbar ist, um in die Schule und zum Job zu kommen, zum Badesee, in die Disco. Wer in einer Stadt wie München auf den Takt von U-Bahn-, Bus- und Tramlinien setzen darf, kann es sich nicht vorstellen, dass mancherorts der Bus drei Mal am Tag kommt, dass es zur Haltestelle ein Fußmarsch ist.

Der Bund der Deutschen Landjugend hat auf dem Titel einer Broschüre mal die Lebenswelt eines jungen Mannes mit einer Karte illustriert. Zur Schule? Acht Kilometer. Zu den Freunden? Elf Kilometer. Zur Disco? 28 Kilometer. Zum Arzt sind es 32. "Ein Stück Freiheit" sei das Auto auf dem Land, heißt es in dem Heft, die Freiheit, schnell und flexibel aus der Enge eines Dorfes auszubrechen - der von Studien ausgemachte Trend unter jungen Erwachsensen zum Auto-Verzicht, ja, dass nicht mal unbedingt ein Führerschein gemacht wird, hält nicht stand in Tirschenreuth, Marktoberdorf, Bad Reichenhall. Oder Straubing.

Die Schatten der Toten stehen im Foyer der Straubinger Marianne-Rosenbaum-Schule, Außenstelle Mitterfels. Lebensgroße Tafeln mit den Konturen sind das: von Benjamin, 19, Sportler, eine Frohnatur, nachts übermüdet von der Straße abgekommen; oder Sascha, gleichaltrig, auf dem Weg zur Faschingsparty, nicht angeschnallt, ein Moment der Unachtsamkeit, der Golf überschlägt sich; Sarah, 15, verliebt mit ihrem Freund auf der Rückbank eines Wagens, dessen Fahrer die Kontrolle verliert - und das junge Paar sein Leben. "Ich wollte doch leben!", so der Titel der Ausstellung des ADAC, in Miesbach und Landsberg gastierte sie zuletzt in Berufsschulen, in Kissingen und Coburg.

Dass die Schau in Straubing zu sehen sein soll, war klar für Hermine Eckl. Die Vertreterin des Schulleiters meint: "Das gehört zum Selbstverständnis einer Berufsschule, das ist auch Werteerziehung." Reale Beispiele, direkte Ansprache, die Möglichkeit, sich das nebenbei anzuschauen, etwa in der Pause - für Eckl ein idealer Weg für Sensibilisierung.

Zur Eröffnung kamen Veranstalter, Polizei, Kommunalpolitik. Man hat es sich schön gemacht im Foyer, Berufsschüler haben ein Büffet angerichtet, mit Schinkenhappen, Pasteten. Und doch war es ein trauriger Tag, weil Teilnehmer erzählten, wie das ist, wenn man sich freitags verabschiedet und am Montag ein Platz frei bleibt in der Klasse.

Jeder kennt wen, der schon einen Unfall hatte, sagen Steffi, Lisa und Rebecca. Die angehenden Kinderpflegerinnen haben die Ausstellung gesehen. Auch haben sie von der Tragödie im Allgäu gelesen, auf Facebook. Alle drei wissen: Ohne Auto, ohne Roller geht wenig in ländlichen Gegenden, nur eine Einzige in der Klasse fällt ihnen ein, die keinen Führerschein hat.

Eine von ihnen hatte einen - zum Glück kleineren - Unfall, eine Narbe am Bein erinnert daran. Bei der anderen ist ein Freund an einen Baum gefahren. Es kann immer was passieren, sagen sie. Bei Bekannten, meint Lisa, fährt man traurig an den Kreuzen vorbei, aber das Leben geht weiter.

Doch was kann man tun? "Das Schlimme ist, dass das oft Mitfahrer sind, die machen gar keinen Fehler", sagt Steffi, auch in der Ausstellung sind solche Beispiele dabei. "Schuld" - das ist tatsächlich eine Frage, die oft länger bewegt als ein Unglück an sich. Fehler, die man machen kann, kennen die jungen Frauen: Sich nicht anzuschnallen, Burschen seien sorgloser, "machen auf cool".

Rebecca meint: "Wenn ich fahre, müssen sich alle anschnallen. Ich sag' ganz klar: Anschnallen oder aussteigen!" Vom "Driften" erzählen die drei, ein Hobby mancher Jungen - den Motor aufheulen lassen, dann zack Handbremse, den Wagen ausbrechen lassen und lässig um die Kurve gleiten. Mit einem Renault Clio macht man das seltener als mit einem alten, aber PS-starken Audi.

Bei dem vermeintlichen Spaß kam einer in der Region auch ums Leben, er landete im Straßengraben, erzählen die drei Berufsschülerinnen. Wenn ihre Clique in die Disco fährt, sei es üblich, dass jedesmal jemand anderer fahre - und ihm die Freunde dafür Cola und Energydrinks spendieren. Viele machen das genauso, hört man an der Schule.

Was den Alkohol angeht, "sind die Jungen heute viel vernünftiger", sagt Werner Königseder, der Freyunger Polizeihauptkommissar. Er steht jetzt auf einer Feldstraße, in einer Kurve, direkt neben einem Kreuz aus Granit. Harald hieß der junge Mann, der hier gestorben ist, er war 21. Er war mit einem Kumpel unterwegs, viel zu schnell, das Auto flog aus der Kurve "und ist an einem Baum hängengeblieben".

"Damit aus dem Erleben Erfahrung wird"

Beide waren sofort tot, erzählt Königseder. Er musste den Eltern hinterher die persönlichen Gegenstände übergeben, die man im Unfallwrack gefunden hatte, Geldbeutel, Führerschein, solche Sachen. "Das war Wahnsinn", sagt Königseder, mehr will er darüber nicht sagen. "Man verdrängt bestimmte Sachen. Das ist meine Art, die negativen Dinge zu verarbeiten."

In Bayern gibt es inzwischen viele Projekte, die aufklären sollen, die junge Raser einzubremsen versuchen. Die Straubinger Berufsschule nimmt an einem Programm teil, das Unfallopfer im Krankenhaus besucht. Und bei "EVA" hat man mitgemacht, das steht für "Ernstnehmende Verkehrssicherheitsarbeit". Das Kultus- und das Innenministerium und unter anderem der Verband der Bayerischen Fahrlehrer schulen Berufsschüler nach, ein Aktionstag mit Fahrtraining.

"Es ist wichtig, auch nach der Fahrausbildung unterstützend einzugreifen. Damit aus dem Erleben Erfahrung wird, bedarf es der kritischen Analyse", heißt es beim Fahrlehrer-Verband. Deshalb rät auch Polizist Königseder Jugendlichen, ihren Führeschein mit 17 zu machen, damit im ersten Jahr immer ein erfahrener Beifahrer dabei ist. Innenminister Joachim Herrmann setzt zudem auf "gebaute Verkehrssicherheit": weniger gefährliche Strecken, indem etwa enge Kurven begradigt werden.

In einer Kurve hat auch der Fahrer in Markt Rettenbach die Gewalt über sein Auto verloren. Allerdings: Die Biegung der Landstraße zwischen zwei Weilern ist einsehbar, gilt nicht als Unfallschwerpunkt. Am Donnerstag haben sie im Allgäu getrauert. Ohne Medien-Bohei, das war der Wunsch der Familien.

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SZ vom 03.12.2016/amm
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