Vergewaltigung im Kindesalter:Wenn die Erinnerung zurückkommt

Kira war zwölf Jahre alt, als sie von ihrem Vater zum ersten Mal vergewaltigt wurde. 20 Jahre später hat sie Anzeige erstattet. Doch die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt. Denn nun steht Aussage gegen Aussage - und für Ermittler ist es schwer, die Wahrheit herauszufinden.

Dietrich Mittler

Sie ist 36 Jahre alt, im Internet nennt sie sich "Kind Kira" oder "Kira, das Kind". Kira, so wie ihr längst gestorbener Lieblingshund "Akira". Gerade ist sie umgezogen, weit genug weg, hoffte sie, um endlich ein normales Leben beginnen zu können. Doch die Erinnerungen sind mitgezogen.

Vergewaltigung im Kindesalter: Viele Kinder verdrängen es, wenn sie missbraucht wurden - erst im Erwachsenen kehren die schrecklichen Erinnerungen zurück.

Viele Kinder verdrängen es, wenn sie missbraucht wurden - erst im Erwachsenen kehren die schrecklichen Erinnerungen zurück.

Kira war zwölf Jahre alt, als sie abends von ihrem Vater im Kinderzimmer geweckt wurde. Er sagte, dass sie nun Mama mit ihm spielen dürfe. Im Kinderzimmer, im Bad, im Obergeschoss eines Holzschuppens, im elterlichen Schlafzimmer habe er sie in den folgenden Jahren vergewaltigt, sagt Kira. 20 Jahre später hat sie Anzeige erstattet. Doch die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt. Kein Einzelfall, sagen Beratungsstellen. Kiras Geschichte zeigt, wie schwer es die Gerechtigkeit in solchen Fällen hat.

Obwohl die schrecklichen Ereignisse fast 25 Jahre zurückliegen, beginnt Kiras Geschichte erst 2007. Nachdem ein Hund sie in die Hand gebissen hat, kommt sie damals mit eitrigen Verletzungen ins Krankenhaus. "Ich lag da im Fieber, war knapp davor, dass die Hand amputiert werden musste", sagt sie. Eines Nachts hat sie dann diesen Albtraum: "Mein Erzeuger hat mich in einem Zimmer an den Händen festgehalten, und ich habe verzweifelt versucht, durch die Tür rauszukommen."

Seit diesem Traum ist nichts mehr wie vorher: Bildfetzen, Bruchstücke unbestimmbarer Geräusche und Gerüche jagen an ihr vorbei, verdichten sich, verschwinden wieder hinter dichten Nebeln. Für Traumatherapeuten eindeutige Hinweise auf eine verdrängte persönliche Katastrophe. "Alles ist splitterartig abgespeichert im Gehirn. Es gibt dann kein zusammenhängendes Ereignis mehr - sondern immer nur Bruchstücke, die plötzlich hochschießen", sagt Kiras Therapeutin Heidrun Schlenker, die mit ihr versuchte, die einzelnen Eindrücke zu einem Bild zu fügen.

Bei Kira ergab sich so eine schreckliche Gewissheit: "Ich wurde von meinem Erzeuger missbraucht, und drei Jahre später hat er mich einfach weitergereicht an einen nahen Verwandten."

Schläge mit dem Nietengürtel

Wie Kira geht es vielen, die als Kinder missbraucht wurden. Die Erinnerungen kommen erst im Erwachsenenalter wieder hoch, sind dann lückenhaft, weil das Erlebnis zu traumatisch war, um es in allen Einzelheiten im Gedächtnis zu speichern. Für die Polizei wird es dann schwierig: Oft steht Aussage gegen Aussage. In Kiras Geschichte, sagt Therapeutin Schlenker, sei ihr klar geworden, "wie unglaublich unterschiedlich die Denkwelten der Justiz und der Psychotherapie doch sind".

Das Wort Vater kommt Kira nicht über die Lippen. "Mein Erzeuger", sagt sie. Der habe sie brutal zum Beischlaf gezwungen, immer wieder von ihr verlangt, dass sie ihm "diene" - das sei "ganz normal". Zur Hochzeit, Jahre später, schenkte er ihr Bettwäsche, Tischdecken, Essgeschirr. "Ich habe alles weggeworfen, was mich an ihn erinnert, sogar mein Hochzeitsvideo habe ich gelöscht", sagt Kira. Nicht löschen kann sie indes die Erinnerung an die vielen Schläge mit dem Nietengürtel des Vaters, deren Androhung allein für sie Grund genug waren, sich zu fügen.

Kira hat vor zwei Jahren den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Ihre Mutter nennt sie mittlerweile "die Mitwisserin", oder "die Zeugin". Bei mindestens einer Vergewaltigung im elterlichen Bett sei sie tatenlos danebengelegen, sagt die 36-Jährige. Doch als die Kripo auf der Suche nach Beweisen das Haus des Beschuldigten durchsucht, stößt sie dort auf einen Brief. Ich habe dich lieb, schreibt Kira darin ihrer Mutter. Der Brief unterhöhlt bei den Ermittlern Kiras Glaubwürdigkeit. Mehr noch aber die Aussage der Mutter.

"Sie will uns jetzt nur überall schlecht machen"

Sie wisse nichts davon, dass ihr Mann Kira oder ihren Bruder je geschlagen hätte, und über sexuelle Übergriffe habe ihre Tochter nicht ein einziges Mal mit ihr gesprochen. "Sie will uns jetzt nur überall schlecht machen, das ist der Dank", sagt die Mutter. Das sei leider recht typisch, sagt Psychotherapeutin Modjgan Hamzhei, die seit 15 Jahren beim Münchner Frauennotruf arbeitet. "Die Mütter sind in vielen Fällen nicht solidarisch mit den betroffenen Töchtern."

Oft ist es für die Opfer daher schwer, die Taten nachzuweisen, die jahrzehntelang zurückliegen. Denn: Die Ermittler können nicht mehr auf Sachbeweise - etwa Tatspuren an der Kleidung - zurückgreifen. "Wir versuchen also auch sogenannte Umfeldzeugen zu finden, etwa Familienangehörige oder Freunde, denen die Opfer etwas von den Taten erzählt haben", sagt Christine Schäfer von der Staatsanwaltschaft München I.

Finden sich solche Zeugen nicht, wird es schwierig - insbesondere dann, wenn sich die Wahrheit hinter einem Gestrüpp aus widersprüchlichen Aussagen verbirgt. "Häufig hat man dann nur zwei Sichtweisen - die des Opfers und die des vermeintlichen Täters, denn das Umfeld in der Familie will meistens nichts davon wissen", sagt auch Arno Helfrich, der Leiter des Opferschutz-Kommissariats 105 in München.

Kira indes hat einen Zeugen vorzuweisen, der als Nachbarsjunge die körperlichen Misshandlungen des Vaters miterlebte. Er arbeitet heute als Diakon in Oberbayern, will deshalb anonym bleiben. Der Polizei hätte er jedoch gerne Rede und Antwort gestanden - allerdings: Er wurde nicht vorgeladen. "Wir haben als Kinder viel miteinander gespielt", sagt er. Die Erziehungsmethoden von Kiras Vater hätten ihn bereits als Buben befremdet. Als Erwachsener findet er dafür nur noch ein Wort: "Pervers."

Der Vater habe Kira auch in seinem Beisein geschlagen, dabei sei es immer um Schulnoten gegangen. Es gab stets so viele Hiebe, wie ihre Leistungen von der Bestnote abwichen. "Manchmal musste sie sich nach vorne beugen, manchmal hat er sie gepackt und übers Knie gelegt und sie dann mit dem Gürtel oder mit der flachen Hand aufs Gesäß geschlagen." Kiras Vater, auch daran erinnert sich der Diakon, habe selbst Kindern gegenüber "gerne mal das eine oder andere losgelassen", was in den sexuellen Bereich gehört: "Mich als elfjährigen Buben hat er zum Beispiel gefragt, ob mein vier Jahre älterer Bruder schon mit seiner Freundin schläft."

"Absolut glaubwürdig"

Solche Aussagen wären zwar angesichts der schweren Vorwürfe gegen Kiras Vater lediglich ein kleiner Puzzlestein. Traumatherapeutin Schlenker hält ihre Patientin für "absolut glaubwürdig". Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Kiras Versuch, ein Ermittlungsverfahren gerichtlich zu erzwingen, scheiterte schließlich an einem Formfehler: Ihr Rechtsanwalt versäumt eine Frist. "Das ist eine große Belastung für sie ", sagt ihr einstiger Spielkamerad, der Diakon.

Der Frauennotruf in München rät den Anruferinnen, möglichst früh sachkundigen Rechtsrat einzuholen, zu prüfen, ob eine Anzeige Aussicht auf Erfolg hat. "Ermittlungen und Gerichtsverfahren sind sehr belastend für die Opfer", sagt Modjgan Hamzhei, "und wenn eine der von uns vermittelten Rechtsanwältinnen schon vorher abwinkt, dann sollte sich die betroffene Frau den Stress gar nicht erst antun."

In München, so die Erfahrung der Notruf-Mitarbeiterin, seien die Strafermittler inzwischen sehr sensibilisiert für das Thema Missbrauch. Insbesondere mit dem Opferschutz-Kommissariat K105 sei die Zusammenarbeit gut. "Was ich aber manchmal von Frauen erfahre, die aus dem ländlichen Bereich kommen, klingt weniger erfreulich", sagt Hamzhei.

Enormer Rechtfertigungsdruck

Hamzheis Beobachtung deckt sich mit den Erfahrungen etlicher Beratungsstellen in Bayern, die lieber anonym bleiben wollen, um "die zarten Wurzeln der Zusammenarbeit" mit der örtlichen Polizei nicht zu gefährden. Oft, so ihre Kritik, stünden Missbrauchsopfer, die Anzeige erstatten, unter enormem Rechtfertigungsdruck.

Eine junge Frau - so berichtet eine Beraterin aus der Oberpfalz - wurde gar in die Nähe der Schizophrenie gerückt. "Ich habe das Gefühl, dass da wenig Wissen über Traumatisierung und Abhängigkeiten in Gewaltbeziehungen vorhanden ist", sagt Nicoline Pfeiffer vom Verein "Frauen helfen Frauen" im oberbayerischen Wolfratshausen. "Die Frau, mit der ich zuletzt zu tun hatte, erzählte mir, sie habe sich auf dem Revier wie eine Angeklagte gefühlt." Bessere Erfahrungen machen die Beratungsstellen in der Regel dort, wo speziell geschulte Beamtinnen die Frauen vernehmen, so wie etwa in Ingolstadt.

Arno Helfrich, der Leiter des Opferschutz-Kommissariats 105 in München, weiß aus jahrelanger Erfahrung, in welchem Dilemma die betroffenen Frauen aber auch die Ermittler stecken. "Da geht es um äußerst intime Dinge, und in gewisser Weise sorgen wir Polizisten ja dafür, dass die Frau beim Verhör das Ganze noch einmal durchlebt", sagt er. Doch das lasse sich nicht umgehen. Um genügend Beweise zur Überführung des Täters in die Hand zu bekommen, müssen die Beamten schmerzliche Details abfragen: "Wie hat er sie denn vergewaltigt? War es vaginal oder anal? Kam es zum Mundverkehr?"

Helfrich zählt nur einige der Fragen auf, mit denen Missbrauchsopfer auf einem Polizeirevier rechnen müssen, und auf seinem Gesicht spiegelt sich für einen kurzen Moment wider, was solche Fragen bei einem Opfer auslösen können: Trauer, Ekel, Abscheu. Gefühle, die er sich als ermittelnder Beamter aber nicht erlauben darf: "Wir müssen auch die Seite des mutmaßlichen Täters beleuchten, müssen Dinge erheben, die ihn möglicherweise entlasten", sagt er. Unter Umständen werde dem Beschuldigten ja Unrecht getan - auch das müsse ein Polizist in Betracht ziehen.

"Ich kann nicht so tun, als wäre mein Leben in Ordnung"

"Die fragen und fragen und fragen", so erlebte Kira die Verhörsituation. Ihre Aussagen, all die Erinnerungsbruchstücke, klingen anfangs zu wenig konkret oder gar widersprüchlich. Erst später nimmt Kira Kontakt zu einer Traumatherapeutin auf. Für eine gerichtsfeste Aussage ist es wohl zu spät.

Oberstaatsanwältin Schäfer macht Opfern trotzdem Mut, vor Gericht zu ziehen. "Ich habe selber zwei Fälle aus den 90er Jahren gehabt, bei denen trotz der langen Zeitspanne seit der Tat noch eine Verurteilung des Täters erfolgte. "

Im Fall Kira wird es wohl keine Verhandlung geben. Sie müsse sich mit der Situation arrangieren, sagt ihr alter Spielkamerad, der Diakon. "Solange sie den Vater auf Biegen und Brechen vor Gericht bringen möchte, findet sie ja selbst auch keine Ruhe." Für die 36-Jährige ist es nicht so einfach. "Ich kann nicht so tun, als wäre mein Leben in Ordnung, denn das ist es nicht."

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