Vanessas Mörder bleibt eingesperrt:"Ausgeprägte Phantasietätigkeit" als Risikofaktor

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Ein Gutachter empfiehlt die Freilassung, der zweite sieht das Risiko einer neuerlichen Gewalttat. Das Landgericht Augsburg hat jetzt Sicherungsverwahrung für den Mörder der zwölfjährigen Vanessa angeordnet. Allerdings soll der Täter intensiv therapiert werden - und kann bereits in fünf Jahren mit seiner Freilassung rechnen.

Hans Holzhaider, Augsburg

Der Mörder der zwölfjährigen Vanessa kommt vorläufig nicht auf freien Fuß. Die Jugendkammer des Landgerichts Augsburg verhängte am Donnerstag nach neunmonatiger Verhandlung gegen den 30-jährigen Michael W. die nachträgliche Sicherungsverwahrung. W. war im Februar 2002 in ein Einfamilienhaus in Gersthofen bei Augsburg eingedrungen und hatte die in ihrem Kinderzimmer schlafende Vanessa mit 21 Messerstichen getötet. Er wurde deshalb zu zehn Jahren Jugendstrafe - nach dem Jugendstrafrecht die Höchststrafe - verurteilt. Diese Strafe hat er vollständig verbüßt.

Der Vorsitzende Richter Lenart Hoesch begründete das Urteil damit, dass von W. noch immer eine "hochgradige Gefahr für schwerste Gewaltdelikte" ausgehe und dass W. unter einer Persönlichkeitsstörung leide, die Krankheitswert besitze. Das sind nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzungen dafür, dass die eigentlich als verfassungswidrig eingestufte Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für einen Übergangszeitraum weiter angewandt werden darf. Die bayerische Justizministerin Beate Merk bewertete das Urteil in einer Presseerklärung als "klares Signal für den Opferschutz".

Die Augsburger Jugendkammer hat sich außerordentlich gründlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Michael W. in Freiheit kommen soll oder weiter eingesperrt bleibt. Sie hörte drei psychiatrische und psychologische Sachverständige - von denen allerdings einer während des Prozesses wegen Unfähigkeit entlassen werden musste - und eine Reihe von Zeugen, die mit Michael W. während dessen Gefängnisaufenthalts zu tun hatten.

Von den beiden verbleibenden Sachverständigen hatte der eine - der Psychologe und Kriminologe Helmut Kury - eine Entlassung Michael W.'s unter strengen Auflagen befürwortet. Der andere, der Psychiater Ralph-Michael Schulte, hatte sich dagegen für die Sicherungsverwahrung ausgesprochen.

In der Urteilsbegründung übte der Vorsitzende Richter jetzt ungewöhnlich scharfe Kritik an dem Sachverständigen Kury. Dessen Gutachten sei "an allen Ecken und Enden geschönt" gewesen, sagte Lenart Hoesch. Kury habe die Tendenz gezeigt, alle für den Verurteilten (also für Michael W.) ungünstigen Tatsachen auszulassen, so zum Beispiel die Äußerung W.'s, er hätte, wenn nicht Vanessa, dann sicher später irgendjemand anderen getötet. "Dass Kury diese Äußerung weder in seinem schriftlichen noch in seinem mündlichen Gutachten erwähnte, ist ein unglaublicher Vorgang", sagte Hoesch.

Kombinierte Persönlichkeitsstörung

Dagegen folgte das Gericht in vollem Umfang dem Sachverständigen Schulte, der zu dem Ergebnis gekommen war, die Wahrscheinlichkeit, dass W. erneut eine schwere Straftat begehe, liege bei mehr als 50 Prozent. Michael W. leidet nach Schulte an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, die ihre Ursache in der schwierigen Biografie des 30-Jährigen habe.

W. war im Alter von einem Jahr in ein Kinderheim gekommen, weil er von seinen Eltern vernachlässigt und misshandelt wurde. Im Alter von fünf Jahren wurde er adoptiert und entwickelte besonders zu seinem Adoptivvater eine sehr innige Beziehung. An die Zeit vor seiner Adoption hatte er später keinerlei Erinnerung mehr. Als Michael W. elf Jahre alt war, starb sein Adoptivvater bei einem Arbeitsunfall. Kurz danach wurde er von einem Onkel sexuell missbraucht. Danach zog sich W. immer mehr in eine Phantasiewelt zurück, in der er auch Gewalt- und Tötungsphantasien gegen Personen entwickelte, die ihm wirklich oder vermeintlich Unrecht getan hatten.

Diese "nach wie vor ausgeprägte Phantasietätigkeit" wertete der Sachverständige Schulte als erheblichen Risikofaktor. Michael W. nahm während der letzten Phase seiner Haftzeit an einer Sozialtherapie teil, die aber abrupt abgebrochen wurde, als die Staatsanwaltschaft den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung stellte.

Die Gewaltphantasien seien in dieser Therapie nur unzureichend bearbeitet worden, befand Schulte, insbesondere sei das Tatmotiv bis heute nicht geklärt worden. Michael W. behauptet bis heute, er habe das Mädchen nur erschrecken wollen und habe dann in Panik zugestochen, als es aufgewacht sei. Wenn W. jetzt in Freiheit komme, argumentierte Schulte, werde er von den unvermeidlich auftretenden Stresssituation rasch überfordert sein, das Wiederholungsrisiko sei "nicht kalkulierbar".

Es gehe bei dieser Entscheidung nicht um ein "Auf-Dauer-Wegsperren", betonte Richter Hoesch, sondern einzig und allein um die Frage, ob Michael W. so gefährlich sei, dass sein verfassungsmäßiger Freiheitsanspruch hinter dem Sicherheitsanspruch der Allgemeinheit zurückstehen müsse. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Gefährlichkeit müsse "hochgradig" sein, berge eine gewisse Bandbreite in sich, sagte Hoesch. Wenn jedoch "der Rückfall wahrscheinlicher ist als dessen Ausbleiben", dann sei dies jedenfalls als "hochgradig" anzusehen.

Hoesch machte dem Verurteilten jedoch durchaus Hoffnung, dass er in absehbarer Zeit freikommen könne. "Wenn er sich auf eine intensive deliktorientierte Therapie einlässt, kann man in zwei bis drei Jahren mit Vollzugslockerungen und nach etwa fünf Jahren mit einer Freilassung rechnen", sagte Hoesch. Das Gericht ordnete deshalb auch an, dass W. von der Justizvollzugsanstalt Straubing wieder in die sozialtherapeutische Anstalt in Erlangen verlegt werden muss.

Weil das Bundesverfassungsgericht einen deutlichen Abstand zwischen Strafvollzug und Sicherungsverwahrung fordert, müsse W. "frühestmöglich" die Chance auf eine intensive Therapie gewährt werden. Eventuell vorhandene Sicherheitsbedenken müssten dagegen zurücktreten und, falls nötig, durch erhöhten Personaleinsatz ausgeglichen werden.

Michael W.'s Verteidiger Adam Ahmed kündigte an, er werde gegen das Urteil Revision einlegen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Entscheidung ein klarer Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, sagte Ahmed.

© SZ vom 16.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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