Süddeutsche Zeitung

Ursula-Herrmann-Prozess:Ein letzter Zweifel bleibt

Mehr als 15.000 Spuren, 197 Zeugen - trotzdem konnte das Gericht sein Urteil am Ende nur auf Indizien stützen. Der Entführer von Ursula Herrmann muss lebenslänglich in Haft.

Hans Holzhaider, Augsburg

Fast 29 Jahre nach der Tat hat das Landgericht Augsburg eines der grausamsten und aufsehenerregendsten Verbrechen der bayerischen Nachkriegsgeschichte geahndet. Werner Mazurek, 59, ist nach Überzeugung des Gerichts der Mann, der am 15. September 1981 die zehnjährige Ursula Herrmann von ihrem Fahrrad gezerrt und in eine im Wald vergrabene Kiste gesperrt hat, wo das Kind infolge Sauerstoffmangels kurze Zeit darauf starb. Für dieses Verbrechen gebe es nur eine einzige schuldangemessene Strafe, sagt der Vorsitzende Richter der 8. Strafkammer, Wolfgang Rothermel: lebenslange Haft wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge.

Die Ehefrau des Angeklagten, Gabriele F., wurde freigesprochen. Es liege zwar nahe, dass sie etwas von der Tat gewusst habe, sagte Rothermel, es gebe aber keinen klaren Beweis dafür, dass sie, wie in der Anklage behauptet, an der Herstellung der Erpresserbriefe mitgewirkt habe.

Es war das umfangreichste und aufwendigste Strafverfahren, das je vor dem Landgericht Augsburg betrieben wurde. Mehr als 15.000 Spuren und Hinweise waren in den jahrelangen Ermittlungen bearbeitet worden, das Gericht musste sich durch 90.000 Seiten Akten in 400 Ordnern kämpfen.

13 Monate dauerte die Hauptverhandlung, an 55 Prozesstagen wurden 197 Zeugen persönlich vernommen und die Aussagen von etwa 40 weiteren, meist gestorbenen Zeugen verlesen. Am Ende dieses Verfahrens kann sich das Urteil trotzdem nur auf Indizien stützen. Einen eindeutigen Sachbeweis, wie etwa einen Fingerabdruck oder eine DNS-Spur, gibt es nicht.

Der Angeklagte bestritt bis zuletzt, irgendetwas mit dem Verbrechen zu tun zu haben. Dennoch kam das Gericht, so Rothermel, "nach erschöpfender Gesamtwürdigung der Indizien zu einem nach der Lebenserfahrung ausreichenden Maß an Sicherheit" von der Schuld des Angeklagten.

Werner Mazurek, zur Tatzeit 31 Jahre alt, ein gelernter Kfz-Mechaniker und Fernsehtechniker aus Oberhausen im Ruhrgebiet, hatte die Entführung Ursula Herrmanns nach Überzeugung des Gerichts lange und sorgfältig geplant.

Tatmotiv seien seine desolaten finanziellen Verhältnisse gewesen. Er hatte etwa 140.000 Mark Schulden, seine "Fernsehklinik" in Utting am Ammersee hatte er 1980 verkaufen und den Offenbarungseid leisten müssen. Rothermel zitierte aus einem Brief Mazureks an seine spätere zweite Ehefrau: "Wir müssen raus aus der Scheiße, koste es, was es wolle."

Mit den zwei Millionen Mark, die er als Lösegeld von Ursula Herrmanns Eltern forderte, habe er sich seinen Lebenstraum erfüllen wollen - eine Weltreise im eigenen Boot.

Mazurek, der wie sein späteres Opfer in Eching wohnte, habe die Ortskenntnis, die Zeit und die Gelegenheit gehabt, um Ursula Herrmanns Lebensgewohnheiten auszuspähen. "Wir sind überzeugt, dass sie kein Zufallsopfer war", sagte Rothermel. Der Angeklagte habe auch die handwerklichen Fähigkeiten und das Werkzeug besessen, um die Kiste mit dem komplizierten, aber funktionsuntüchtigen Belüftungssystem zu bauen, in der das Mädchen starb. Wo er die Kiste gebaut habe, habe aber nicht ermittelt werden können.

Rothermel führte weitere Indizien an, die für die Schuld des Angeklagten sprächen. Die beiden Erpresserbriefe waren aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt, die unter anderem aus der Bild-Zeitung und Bild am Sonntag ausgeschnitten waren. Mazurek hatte erklärt, weder die eine noch die andere Zeitung zu lesen; die Aussage einer Kioskbesitzerin widerlegte das.

In der Nähe des Entführungsortes wurde ein Fernglas gefunden. Mazurek bestritt, ein solches Fernglas besessen zu haben; mehrere Zeugen und später auch seine Ehefrau behaupteten das Gegenteil.

Eine "wesentlich Säule" der Beweisführung sei das später widerrufene Geständnis des verstorbenen Zeugen Klaus Pfaffinger, sagte Rothermel. Pfaffinger hatte bei einer Vernehmung im Februar 1982 erklärt, er habe in Mazureks Auftrag das Loch im Wald gegraben, in das später die Kiste eingesetzt wurde. Dieses sehr detailreiche und ausführliche Geständnis sei "ohne Druck und Zwang" abgelegt worden, sagte Rothermel, es habe kein Motiv für Pfaffinger gegeben, Mazurek fälschlich zu belasten. Der Widerruf sei damit zu erklären, dass Pfaffinger, der als Mittäter anzusehen sei, "kalte Füße bekommen" habe. Allein wäre Mazurek zur Ausführung des Verbrechens nicht in der Lage gewesen. Die Kiste war so groß und schwer, dass ein Mann allein sie nicht hätte tragen können.

Alle diese Verdachtsmomente hätten aber noch nicht zu einer Verurteilung geführt, wenn nicht das im Oktober 2008 bei Mazurek beschlagnahmte Tonbandgerät hinzugekommen wäre. Eine Sachverständige hatte es als "wahrscheinlich" bezeichnet, dass dieses Gerät vom Täter bei den Erpresseranrufen benutzt wurde. Bei den insgesamt zehn Anrufen waren jeweils nur Schaltgeräusche und das Erkennungssignal des Radiosenders Bayern 3 zu hören.

Die Sachverständige sei "sehr sicher und souverän" und sehr vorsichtig in ihrer Beurteilung gewesen, sagte Rothermel. Die Behauptung Mazureks, er habe das Gerät auf einem Flohmarkt gekauft, sei durch die Aussagen von mehr als 40 Zeugen widerlegt worden. "Solche falschen Angaben können nur zum Ziel haben, die wahre Herkunft des Geräts zu verschleiern", sagte der Vorsitzende Richter.

Schließlich sei auch der Charakter des Angeklagten ein Indiz für seine Täterschaft. Rothermel erwähnte die Episode mit dem Hund, den Mazurek in eine Tiefkühltruhe gesteckt hatte - "eine Tat, die an Grausamkeit ihresgleichen sucht".

Rechtlich bewertete das Gericht die Tat nicht als Mord, sondern als erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge. Der Strafrahmen dafür reicht von zehn Jahren bis lebenslänglich.

Michel Herrmann, Ursulas älterer Bruder, äußerte sich nach der Urteilsverkündung erleichtert, dass dieser lange und für die Familie sehr belastende Prozess zu Ende sei. Seine Zweifel, ob der richtige Täter verurteilt wurde, habe der Prozess aber "leider nicht zerstreuen können". Andererseits sei er aber auch nicht von der Unschuld Mazureks überzeugt. Michael Herrmann hatte sich während der Hauptverhandlung wiederholt sehr kritisch zur Beweislage gegen Mazurek geäußert.

Insbesondere das Tonbandgerät sah er als bei weitem nicht so beweiskräftig an wie die Staatsanwaltschaft. "Wir haben uns keine Überzeugung gebildet, weder für noch gegen die Schuld des Angeklagten", sagte Herrmann nach der Verhandlung. Juristisch habe das Urteil "Hand und Fuß", eine endgültige Klärung könne man aber von einem Indizienprozess "bei so vielen Unwägbarkeiten" nicht erwarten.

Reinhard Nemetz, der Leiter der Augsburger Staatsanwaltschaft, brachte eine "große Genugtuung" über das Urteil zum Ausdruck. Ein Urteil aufgrund von Indizien sei keinesfalls ein "Urteil zweiter Klasse". Verteidiger Walter Rubach sagte, sein Mandant habe ihn beauftragt, Revision einzulegen.

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SZ vom 26.03.2010/dmo
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