Zeitgeschichte:Die unglaubliche Odyssee einer Kriegsbeute

Lesezeit: 3 Min.

Im Ersten Weltkrieg waren viele bayerische Einheiten in Belgien eingesetzt. Das Foto zeigt Soldaten in Stellung in Flandern. (Foto: Scherl/SZ Photo)

In einem Haushalt tauchen zwei mittelalterliche Urkunden aus Flandern auf. Ein Kriegstagebuch verrät, wie ein bayerischer Offizier sie 1914 vor der Vernichtung gerettet hat. Nun wurden sie an das Reichsarchiv in Brügge zurückgegeben.

Von Hans Kratzer, München

Im November 1914 war der patriotische Taumel, der die bayerische Bevölkerung wenige Monate vorher beim Kriegsausbruch erfasst hatte, längst verflogen. Der erhoffte schnelle Sieg erwies sich als Trugschluss. Zwar befand sich Belgien, wo damals viele bayerische Einheiten eingesetzt waren, fast vollständig in deutscher Hand, aber der weitere Vorstoß stieß auf heftige Gegenwehr der Engländer und Franzosen. Die Kämpfe erstarrten zum Stellungskrieg. Bei der ersten Flandernschlacht verloren Hunderttausende Soldaten ihr Leben, darunter viele junge Kriegsfreiwillige.

Bei einem der Gefechte wurde unter anderem das im Kreis Ypern in Westflandern gelegene und schon im 11. Jahrhundert gegründete Kloster Mesen durch wütenden Artilleriebeschuss zerstört. Am Abend des 11. November 1914 sah sich der bayerische Offizier Friedrich Karl Konstantin Freiherr Kress von Kressenstein, Angehöriger der 12. Reserve-Infanteriebrigade, in der Ruine ein wenig um. Im Schutt des Kellers entdeckte er zwei mittelalterliche Urkunden. Kein Wunder, das Kloster war eine archivalische Schatztruhe, es verwahrte viele Urkunden, die ältesten reichten zurück bis ins 11. Jahrhundert. Kress von Kressenstein nahm die beiden Papiere, die aus dem 12. und aus dem 15. Jahrhundert stammten, kurzerhand mit.

Bayerisches Hauptstaatsarchiv übergibt alte Urkunden nach Brügge. (Foto: Bayerisches Hauptstaatsarchiv)

Kress von Kressenstein war ein Mann, der einen Sinn für Kunst und Kultur hatte. In seinem Tagebuch beklagt er des Öfteren, dass im Krieg so viel Kulturgut zerstört werde. Mit Blick auf einen Renaissance-Schrank notierte er: "Schade, dass der jetzt zugrundegehen wird." Die Urkunden hatten für ihn nicht nur einen Erinnerungswert, es war ihm auch ein Anliegen, sie zu retten. Dass er sie in den Kriegswirren wohlbehalten nach Hause brachte, ist ebenfalls erstaunlich. Er bewahrte die Stücke sein Leben lang auf. Dass sie jetzt den Weg zurück nach Westflandern fanden, markiert das glückliche Ende einer fast unglaublichen Geschichte.

Eingefädelt hat diese Rückgabe der Historiker Gerhard Immler, der als Leitender Archivdirektor am Bayerischen Hauptstaatsarchiv tätig ist. Dabei spielte freilich der Zufall eine wichtige Rolle. Im Hause Kress von Kressenstein waren die gut erhaltenen Urkunden in Vergessenheit geraten. Bis vor einigen Monaten ein Urenkel des Offiziers in einem alten Umschlag wieder auf sie stieß. Der Vorfahre hat zudem ein Kriegstagebuch hinterlassen, das Hinweise auf die Herkunft der Papiere enthielt. Die Familie wandte sich deshalb an den Experten Immler, um von ihm klären zu lassen, wem denn diese Urkunden eigentlich gehörten.

Im Hauptstaatsarchiv habe sich die Herkunft schnell ermitteln lassen, sagt Immler. Die ältere Urkunde war 1184 vom Grafen Philipp von Flandern, die jüngere 1474 von Herzog Karl dem Kühnen von Burgund für das Kloster Mesen in Westflandern ausgestellt worden. Die Zuständigkeit für das Archivgut des zerstörten Klosters liege heute beim Reichsarchiv zu Brügge. Die belgischen Kollegen konnten die Urkunden zweifelsfrei identifizieren.

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Manchmal verlangten Privatpersonen viel Geld für die Rückgabe

Zufälligerweise stieß wenig später eine Mitarbeiterin der Ludwig-Maximilians-Universität in der dortigen Urkundensammlung ebenfalls auf eine für das Kloster Mesen ausgestellte Urkunde aus dem Jahr 1181. Auch sie konnte nun an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden.

Hendrik Callewier, der Leiter des Reichsarchivs zu Brügge, sagt, aus einem alten Inventar wisse man, dass das Kloster Mesen im Besitz von mindestens 700 mittelalterlichen Urkunden war. 150 davon habe man mittlerweile zurückerhalten, was sehr erstaunlich sei. Zweifellos gab es mehrere kultursensible Soldaten, die solche Urkunden aus den Trümmern mitgenommen und damit gerettet haben. Sogar aus den USA sei eine Urkunde zurückgekehrt, sagt Callewier, der überdies sehr erfreut darüber ist, dass durch das Kriegstagebuch des Offiziers Kress von Kressenstein nunmehr auch die Umstände der Zerstörung des Archivs in Mesen zu erkennen sind. Am ehesten bestand wohl für Angehörige der bayerischen 12. Reserve-Infanteriebrigade die Möglichkeit, Mesener Archivgut aus den Ruinen zu bergen. Das Reichsarchiv zu Brügge hofft daher, dass in Bayern weitere Urkunden in den Hinterlassenschaften von Soldaten zu finden sein werden. Auch wenn es manchmal Probleme aufwirft, wie Callewier anmerkt. Manchmal verlangten Privatpersonen viel Geld für die Rückgabe. "Das ist aber illegal", sagt Callewier. "Die Urkunden gehören dem Staat."

Hätten die Soldaten die Urkunden 1914 nicht mitgenommen, wären sie spätestens bei der dritten Flandernschlacht im Juni 1917 vernichtet worden. Damals kam es in jener Gegend zu den gewaltigsten Detonationen der Weltgeschichte. Von der Stadt Mesen blieb so gut wie nichts mehr übrig.

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