Unwetter in Oberstdorf:Der Schlamm kam durch den ersten Stock

Der Bach am Ortsrand von Oberstdorf ist so klein, dass er nicht einmal einen Namen hat. Doch nach einem Wolkenbruch wälzt er sich plötzlich durch mehrere Häuser. Ein Ortsbesuch nach der Schlammlawine.

Von Paul-Anton Krüger und Stefan Mayr, Oberstdorf

Margot Reuther glaubte erst an Klingelputzer. Doch als es zum zweiten Mal läutete, ging sie zur Tür. Davor stand ein Feuerwehrmann. "Raus oder ihr sauft ab", rief der ihr entgegen. Die 74-Jährige und ihr Mann Karlheinz wohnen seit acht Jahren direkt neben dem Faltenbach in Oberstdorf. Nie ist in dieser Zeit etwas passiert.

Aber am Sonntagabend fürchtete die Feuerwehr, dass der Wildbach den Ort überschwemmen könnte. Das Unheil hatte sich am Nachmittag aufgebaut über den Gipfeln der Allgäuer Alpen. Schwarze Wolken türmten sich über dem Nebelhorn. Gegen 16 Uhr begann es zu schütten.

60 Liter Regen pro Quadratmeter - in einer Dreiviertelstunde

Nichts Ungewöhnliches hier, in den Tagen zuvor hatte es schon schwere Gewitter gegeben. Diesmal aber prasselten binnen einer Dreiviertelstunde 60 Liter Regen auf den Quadratmeter herunter und lokal womöglich noch mehr, wie Karl Schindele, Leiter des Wasserwirtschaftsamtes des Landkreises Oberallgäu, am Tag danach berichtet.

Die Einsatzkräfte hatten von der Nebelhorn-Bahn und vom Hubschrauber aus gesehen, wie die brauen Wassermassen zu Tal tosten. Sie mussten fürchten, dass Bäume und Geröll sich verkeilen und den Bach in seinem Tobel aufstauen würden. Eine Flutwelle drohte durch den Ort zu walzen. Mehr als 200 Menschen mussten binnen weniger Minuten ihre Wohnungen und Feriendomizile verlassen.

Die Tourismus-Chefin organisierte eine Brotzeit

"Wir haben nicht einmal Geld mitgenommen", sagt Karlheinz Reuther, 72. Dass er nur Badelatschen anhatte, bemerkte er erst später im Oberstdorf-Haus, wo die Menschen provisorisch untergebracht wurden. Dort wurden die 200 Personen von einer Ärztin betreut. Tourismus-Chefin Heidi Thaumiller organisierte sogar eine Brotzeit.

Vier Hubschrauber waren am Sonntag im Einsatz, um neuralgische Stellen abzufliegen. Denn unmittelbar nach dem Unwetter musste es sehr schnell gehen: Besteht Lebensgefahr oder nicht? Um diese Frage baldmöglichst zu klären, waren 350 Rettungskräfte von Polizei, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und Bergwacht im Einsatz.

Der Faltenbach "war immer schon unser Sorgenkind", sagt Bürgermeister Laurent O. Mies (parteilos). Es ist bekannt, dass der Wildbach Oberstdorf gefährlich werden kann, er ist mit Rückhalteeinrichtungen verbaut. Aber die Tragödie spielte sich wenige Hundert Meter weiter ab, im Dummelsmoos, einer Straße am Ortsrand, an einem Wiesenhang gelegen. "Da kamen Meldungen über vollgelaufene Keller und massive Wassereinbrüche", berichtet der Einsatzleiter der Feuerwehr, Joachim Freudig.

Auf der Rückseite der Häuser verläuft ein Graben, keinen Meter breit. So klein ist das Rinnsal, dass es nicht einmal einem Namen hat, wie einer der Feuerwehrmänner dort sagt. Doch am Sonntag brachte es Schlamm, Geröll und Unrat mit. Von einem "massiven Murenabgang" spricht Landrat Anton Klotz (CSU), "damit hat niemand rechnen können". Seit mehr als 30 Jahren gibt es die Siedlung dort schon.

Von oben drücken noch immer die Schlammberge

Skisprungstadion nach der Schlammlawine in Oberstdorf

Ein von einer Schlammlawine umgerissener Absperrzaun liegt unter der Zuschauertribüne der Skisprungarena in Oberstdorf.

(Foto: dpa)

Am Morgen nach der Schlammlawine räumen die Bewohner auf. Ein Mann wirft vom Garagendach eine orangefarbene Sofagarnitur in den Anhänger. Bis auf die halbe Höhe der Rückenlehne ist sie graubraun mit Schlamm verschmiert. Vier Häuser sind am Montagmorgen noch nicht bewohnbar. Am schlimmsten betroffen ist ein Doppelhaus. "Da ist die Mure auf der Bergseite im ersten Stock beim Fenster rein und auf der Straßenseite bei Keller wieder rausgelaufen", sagt Freudig. Ob es stehen bleiben kann, muss ein Statiker entscheiden. Das aber geht erst, wenn das Gebäude ausgeräumt ist - eine heikle Operation, denn von oben drücken immer noch die feuchten Schlammberge auf den Hang.

Die Schäden gehen in die Millionen

Die Schäden lassen sich noch nicht beziffern, sie dürften aber in den Millionen liegen, wie Landrat Klotz sagt. Immerhin wurde niemand verletzt. "Wir haben trotzdem gut geschlafen - im eigenen Bett", sagen die Reuthers, vor deren Wohnung der Faltenbach noch immer braun angeschwollen ins Tal rauscht. 21 Menschen mussten allerdings die Nacht in einem kurzfristig organisierten Quartier verbringen.

Ansonsten ist der Ort mit einem gehörigen Schrecken davongekommen. Die Nacht hindurch räumen Bagger 8000 Kubikmeter Geröll aus dem Bett des Faltenbachs. Mit bloßen Händen, Besen und Schaufeln versuchen die Bewohner im Dummelsmoos, den Schlamm aus ihren Wohnungen und Gärten zu schieben. Die Solidarität ist groß; Vermieter bieten Wohnungen an, Nachbarn helfen beim Aufräumen. Auch etliche Asylbewerber, über deren Unterbringung es im Ort heftige Diskussionen gibt, fassten mit an, wie Bürgermeister und Landrat betonen. Die Debatte über den Hochwasserschutz aber dürfte losgehen, sobald der Schutt verräumt ist.

Beim Dummelsmoos müsse man "die Lehren für den Hochwasserschutz ziehen", sagt Bürgermeister Mies. Auch die Fundamente der Tribüne des Skisprungstadions am Schattenberg hat das Wasser freigelegt, auf Schäden muss sie noch untersucht werden. Man müsse überlegen, wie "mit technischen Mitteln zu verhindern ist", dass sich Baumstämme und Geröll in den Stahlstreben verkeilen, sagt er. Die Tribüne wurde über den Wildbach gebaut; diesmal haben die Uferbefestigungen gehalten. Michael Finger vom Bund Naturschutz Oberstdorf ist sich angesichts der freigespülten Fundamente aber sicher: "Das wird ein teurer Spaß für den Steuerzahler."

Starkregen

100 Liter pro Quadratmeter und Stunde sind schon sehr ungewöhnlich", sagt Diplom-Meteorologe Volker Wünsche vom Deutschen Wetterdienst (DWD). Bereits ab 40 Litern spreche man von "extremem Starkregen", erläutert der Leiter der DWD-Niederlassung München. An der offiziellen Messstation des DWD in Oberstdorf waren es zwar "nur" 46 Liter, doch im Umland fiel stellenweise deutlich mehr, wie auch die Radarbilder des DWD zeigten. Laut Wetter-Journalist Jörg Kachelmann kamen am Nebelhorn tatsächlich 100 Liter pro Quadratmeter herunter - das Vielfache dessen, was ohnehin schon als extrem gilt. "Das ist auch im Alpenraum sehr selten", sagt Wünsche. Am Montag war für Oberstdorf weiterhin Starkregen vorhergesagt. Wünsche rechnete im Laufe des Tages mit etwa 30 bis 40 Litern Regen pro Quadratmeter. Für Michael Finger, den Vorsitzenden der Oberstdorfer Ortsgruppe des Bund Naturschutz, hat das Unwetter seine Ursachen auch im Klimawandel: "Wir müssen jetzt öfter mit so was rechnen." Das Landesamt für Umwelt sieht das ähnlich: "Nicht jedes einzelne Extrem-Wetterereignis lässt sich unmittelbar auf den Klimawandel zurückführen", sagt eine Sprecherin, aber "Trendanalysen" zeigten, "dass von einer generellen Zunahme solcher Wetterextreme in Folge des Klimawandels auszugehen ist". stma

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