Süddeutsche Zeitung

Unternehmen Thomann:Vom kleinen Musikladen zum europaweit größten Online-Shop

Anfangs beantworteten sie E-Mails noch per Post. Heute beschäftigt das Musikhaus Thomann achtmal so viele Mitarbeiter, wie der Firmensitz Treppendorf Einwohner hat.

Von Maximilian Gerl

Der böse Online-Gigant hält sich nicht mit Formalitäten auf. Wer mit ihm reden will, schreibt ihm einfach eine E-Mail, nach etwa einer Stunde ruft er persönlich zurück. Eine Woche später dann das Treffen. Kein Anzug, keine dicke Uhr als Statussymbol, dafür Pulli, Jeans. "Ich zeig dir alles", sagt Johann Thomann, den alle nur Hans nennen. "Wir haben hier keine Geheimnisse."

Treppendorf im Steigerwald, Oberfranken. 160 Einwohner. Hier hat Thomann das größte Versandzentrum Europas für Musikinstrumente und Audiozubehör aufgebaut - und ist damit zu einem der weltweit führenden Händler aufgestiegen. Mehr als 80 000 Artikel führt das Musikhaus Thomann in seinem Online-Shop. Jeder soll hier etwas finden können: Einsteiger und Profimusiker, Solisten und Orchester, Ton- und Lichttechniker. Die rund acht Millionen Kunden kommen aus Deutschland und der EU, aber auch aus den USA. Bis zu 25 000 Pakete gehen von Treppendorf aus in die Welt, täglich.

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Der Versandhandel boomt. Im Internet ist alles jederzeit und günstig verfügbar. Verlierer ist der klassische Einzelhandel. Gerade die kleinen Läden leiden unter der Macht von Internetriesen wie Amazon. Da liegt es nahe, im Musikhaus Thomann einen bösen Online-Giganten aus der Provinz zu sehen. Jemanden, der mit seinem Online-Shop die Preise kaputt macht und anderen Musikhändlern die Kunden wegnimmt, bis sie irgendwann den Laden zusperren müssen.

Allerdings hat die Geschichte vom bösen Online-Giganten aus der Provinz einen Haken: Sie macht es sich zu einfach.

Hans Thomann führt durch sein Versandimperium. Statt Treppendorf wäre Thomann-Stadt treffender. 1200 Menschen arbeiten hier, achtmal mehr, als hier leben. "Wir sind kein normaler Musikalienladen", sagt Thomann und tritt den Beweis an, wirklich nichts zu verstecken: Er öffnet jede Tür, zeigt jeden noch so kleinen Raum, erklärt. Es gibt ein Verwaltungsgebäude, ein Musikgeschäft mit 5500 Quadratmetern Verkaufsfläche, eine Lagerhalle, eine Kantine und eine Hans-Thomann-Straße, benannt nach Thomann senior, dem Firmengründer. Im Callcenter beraten Menschen aus 18 Ländern, im Servicezentrum reparieren Instrumentenbauer Geigen. Tontechniker nehmen Hörbeispiele auf.

Seinen Angestellten hat der 57-Jährige das Du angeboten. Er fragt in der Gitarrenwerkstatt, welche Ersatzteile sie brauchen. Lange verzichtete er auf einen Personalchef, bis die Firma vor zwei Jahren dann doch zu groß wurde. Diskussionen um den Mindestlohn hält er für bescheuert, weil der ohnehin zu niedrig sei. Genauso unverständlich findet er es, wenn andere Händler eine Bestellung in mehreren Paketen versenden. "Ökologisch ein Wahnsinn", sagt Thomann. Bei ihm bekommt der Kunde alle Artikel in einem Paket.

Mit dem Versandhandel hatte Hans Thomann senior, der vor einigen Jahren gestorben ist, nichts am Hut. 1954 hört er als Wandermusiker auf und zieht nach Treppendorf. Er bewirtschaftet einen Hof, richtet sich einen Musikalienladen ein und studiert Trompete. Hans Thomann junior, eins von fünf Kindern, hilft früh mit. Später lernt er Blechblasinstrumentenbauer und Feinmechaniker. 1990 übernimmt er das Geschäft. 1996, als das Internet noch für alle Neuland ist, erkennt er das Potenzial des neuen Mediums - und schaltet als erster deutscher Musikhändler eine eigene Website. E-Mails werden anfangs noch per Post beantwortet.

Thomann professionalisiert die Strukturen. Er baut eigene Plattformen und Medienunternehmen auf, engagiert Informatiker, die ihm passgenaue Software programmieren, richtet einen Online-Shop ein. Heute zahlen sich die Investitionen aus: Das Musikhaus Thomann macht mehrere hundert Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Thomann hat seine virtuellen Fühler fast überall, das ist sein Vorteil. "Machen wir uns nichts vor", sagt er, "Amazon gibt den Takt vor." Wenn Amazon in Großbritannien die Preise senke, könne er sofort reagieren und innerhalb einer Stunde seine Preise anpassen. Eine Möglichkeit, die ein kleines Musikhaus nicht hat.

An die Bedürfnisse des Online-Handels angepasst

Tatsächlich haben einige von Thomanns Kollegen noch ein zweites Problem. Ihr Sortiment ist oft zu klein, um alles abzudecken - und gleichzeitig zu wenig speziell, um als Fachgeschäft für bestimmte Zielgruppen interessant zu sein. Fehlen die passenden Produkte, gehen die Kunden eben woanders hin, also: ins Internet.

Die Erfahrung haben sie auch im Hause Thomann gemacht. Hans' Schwester Gabi leitete mit ihrem Mann die einzige Thomann-Filiale außerhalb Treppendorfs, in Retzbach, Unterfranken. 1500 Quadratmeter Verkaufsfläche, acht Mitarbeiter. Im Sommer 2016 mussten sie zusperren, es kamen zu wenige Kunden. Gegen den Online-Handel hatten sie keine Chance, trotz der Thomannschen Online-Maschinerie im Rücken.

Der Laden in Treppendorf dagegen ist größer, bietet mehr Auswahl und mehr Service. Thomann hat ihn an die Bedürfnisse des Online-Geschäfts angepasst: Hier kann der Kunde testen, was er im Internet nur sieht und hört. Was nicht ausgestellt ist, wird auf Wunsch aus dem Lager geholt. "Du musst alles anfassen können", sagt Thomann. 140 Leute arbeiten im Laden, fast alle studierte Musiker.

Thomann-Stadt endet, wo früher mal eine Wiese war. Jetzt ist da ein neues Versandzentrum, noch größer, noch moderner, mit Robotern, die den Versand weiter beschleunigen sollen. Arbeitsplätze werden dadurch keine wegfallen, sagt Thomann. "Vielleicht sind wir für manche die Bösen. Aber die sehen nicht, was alles dahintersteckt."

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Quelle:
SZ vom 25.04.2018/bica
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