Rebellendorf in Franken:Als die Ermershausner in die DDR auswandern wollten

Demonstration gegen die Gebietsreform in Ermershausen, 1978

Nach dem nächtlichen "Rathaussturm" durch Polizeibeamte reagierten die Ermershäuser ebenso geschockt wie wütend. Auch Straßensperren wurden errichtet.

(Foto: dpa)

Die bayerische Staatsmacht sorgte 1978 mit mehreren Polizeihundertschaften für einen Zwangszusammenschluss zweier Gemeinden in Unterfranken. Die Folgen waren ebenso kurios wie historisch.

Von Olaf Przybilla, Ermershausen

Als Sebastian von Rotenhan am Morgen nach seiner Hochzeitsnacht zufällig durch Ermershausen kam, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen. Stunden zuvor, am 19. Mai 1978 gegen drei Uhr früh, waren Hundertschaften von Polizisten in das unterfränkische Dorf am damaligen "Zonenrand" eingerückt. Sie hatten sich in der Nacht Zutritt zum Rathaus verschafft und alles beschlagnahmt, was eine Gemeindeverwaltung ausmacht: Akten, Urkunden, Stempel. Rotenhan ist 69 Jahre alt heute, diesen Vormittag aber, die Schilderungen entsetzter Ermershäuser hat er nie wieder vergessen.

Eigenständig hatte das Dorf bleiben wollen, die Staatsregierung aber plante anderes. Die Gebietsreform sah den Zusammenschluss von Ermershausen mit dem Nachbarort Maroldsweisach vor. Und in der Nacht waren gnadenlos Fakten geschaffen worden.

15 Jahre lang sollte der Kampf der Ermershäuser um ihre "Freiheit" dauern. Den 19. Mai erklärten sie zum Gedenktag, an dem sich das Dorf Jahr für Jahr zusammenfand, mitten in der Nacht eine "Freiheitsglocke" ertönen ließ und an die dramatische Rathausbesetzung erinnerte. In diesen Nächten fielen böse Worte: Nicht Möbel oder Akten, sondern die Achtung vor dem Staat sei dem Dorf genommen worden. Der Widerstand war so heftig und stetig, dass die Staatsregierung 1994 einknickte und den Zusammenschluss zweier Dörfer für gescheitert erklärte. Seit 25 Jahren ist Ermershausen wieder selbständig. Und Sebastian von Rotenhan, 1978 einfaches CSU-Mitglied, hat eine maßgebliche Rolle bei diesem "Freiheitskampf" gespielt.

Am Morgen nach dem nächtlichen Rathaussturm aber musste sich Rotenhan erst mal all die Geschichten anhören. Wie die Polizei nachts Kräfte zusammengezogen und sich offenbar aufs Äußerste vorbereitet hatte. Sogar ein Leichenwagen soll gesehen worden sein, bei so einem Einsatz weiß man ja nie. Nächtliche Wachposten am Rathaus - solche hatten die Ermershäuser allen Ernstes aufstellen lassen, um die geplante Übergabe von Gemeindeakten zu verhindern - meldeten lauthals einen "Überfall".

Rebellendorf in Franken: Vor Rathaus und Kirche mahnt heute noch die "Freiheitsglocke" an die Zeit.

Vor Rathaus und Kirche mahnt heute noch die "Freiheitsglocke" an die Zeit.

(Foto: Gemeinde Ermershausen)

Der Bürgermeister Adolf Höhn bekam das in seinem Schlafzimmer mit und reagierte sofort: Er telefonierte Journalisten zusammen, auch den Bayerischen Rundfunk, und so gibt es beklemmende Aufnahmen davon, wie das Rathaus von behelmten Einsatzkräften abgeriegelt wird. Wie Zimmer ausgeräumt werden. Und wie verzweifelte Menschen ihre Wut herausbrüllen: "Wenn das eine Demokratie ist, dann scheiß ich einen großen Haufen", schreit jemand in die Kamera. Auch provisorische Straßensperren halfen da nichts.

Adolf Höhn, der inzwischen verstorbene Bürgermeister, hat noch eine ganz andere Geschichte erzählt. Demnach soll die Verzweiflung in den Stunden nach der Rathausbesetzung so groß gewesen sein, dass sich mehr als drei Dutzend Ermershäuser spontan auf den Weg zur deutsch-deutschen Grenze gemacht haben, wohl um anzudeuten, dass man aus so einem Staat auch gleich in einen echten Unrechtsstaat rübermachen könne.

Keine drei Kilometer entfernt war die Zonengrenze, zu der Zeit gab's dort noch ein Tor. Als sich die wütenden Ermershäuser näherten, soll es sich geöffnet haben. Angeblich erklang sogar Marschmusik, als eine Art Willkommensgruß. Bürgermeister Höhn hat oft erzählt, wie er die Abtrünnigen höchstselbst angehalten und ins Dorf zurückbeordert hat.

Eine geplante Republikflucht, aber nicht aus der DDR - sondern in dieselbe? Was exakt dran ist an der Geschichte, weiß der heutige Bürgermeister, Günter Pfeiffer, nicht zu sagen, er kennt sie auch nur aus der mündlichen Überlieferung, ebenso wie Sebastian von Rotenhan. Was aber auf jeden Fall zutrifft: Die Grenzpolizei auf beiden Seiten dürfte über die Eskalation in Sichtweite der deutsch-deutschen Grenze sehr genau informiert gewesen sein in diesen Stunden. Immerhin zogen in dieser Nacht mehr als Tausend Einsatzkräfte - sogar von bis zu 1800 ist die Rede - in einem fränkischen Grenzdorf mit etwa 600 Einwohnern auf. Eine Ausnahmesituation.

Wie das Dorf die Staatsregierung bezwang

Die äußere Einheit zweier Dörfer wurde also nach 1978 vollzogen, die innere niemals. Die Ermershäuser verweigerten sich dem Vollzug. Standen Wahlen ins Haus, stellten sie Klohäuschen im Dorf auf und versenkten die Wahlzettel darin. Die Wahlbeteiligung ging gegen Null. Die Staatsregierung aber bewegte sich nicht. Zehn Jahre ging das so, bis der CSU-Kreisrat Rotenhan, selbst verzweifelt über die verfahrene Situation, einen Vorschlag unterbreitete: Warum tritt nicht ganz Ermershausen in die CSU ein?

Rotenhan weiß noch gut, wie vehement er in Frage gestellt wurde zunächst: "Nur die dümmsten Kälber, wählen ihren Metzger selber", habe man ihm entgegengehalten, erzählt er. Aussichtslos also? "Sie wissen ja, was ein Fass Freibier alles bewirken kann", antwortet Rotenhan. Man habe sich ein paar Abende zusammengesetzt. Und danach traten dann tatsächlich 278 Neumitglieder in die CSU ein.

Rebellendorf in Franken: Der heutige Bürgermeister Günter Pfeiffer erlebte die Ereignisse im Mai 1978 als Jugendlicher. Für ihn sei das "unwirklich" gewesen, sagt er.

Der heutige Bürgermeister Günter Pfeiffer erlebte die Ereignisse im Mai 1978 als Jugendlicher. Für ihn sei das "unwirklich" gewesen, sagt er.

(Foto: Gemeinde Ermershausen)

Die Folgen waren ebenso kurios wie historisch. Der parteiintern verfemte Sebastian von Rotenhan - erfolglos mit einem Parteiausschlussverfahren belastet - verbrachte auf Kosten der CSU ein paar schöne Tage in Moskau. Er hatte den Wettbewerb um die meisten neu geworbenen Mitglieder mit Abstand gewonnen, der Preis war eine Russlandreise. Und der Ermershäuser Ortsverband war mit einem Mal der mitgliederstärkste im Kreis Haßberge, kaperte allerlei CSU-Kreissitzungen und trug maßgeblich zum Rückzug des amtierenden Landrats bei.

Sein Nachfolger, mithilfe der Ermershäuser ins Amt gekommen, stand dann auf Seiten des Rebellendorfes. Und so wurde der Druck innerhalb der CSU immer größer, irgendwann einfach zu groß. Die Staatsregierung schwenkte um, eine "Lex Ermershausen" wurde vorbereitet. Seit 1994 ist Ermershausen wieder eigenständig. An ein "Besäufnis erster Ordnung" erinnert sich Rotenhan.

Und seither? 1998 zog der von der CSU zuvor bekämpfte Sebastian von Rotenhan in den Landtag ein. Für die CSU. Ein "Treppenwitz der Geschichte", wie er heute sagt, das habe er so nie geplant. Aber die Leute hätten eben festgestellt, dass da einer etwas durchzusetzen vermag. Und in free Ermershausen stellte sich alsbald der Alltag ein. Als die gemeinsame Wagenburg gegen die Staatsregierung nicht mehr vonnöten war, beharkte man sich zunächst über innerörtliche Probleme. Wie in so vielen Dörfern.

Später entstand dann ein Bewusstsein, dass eine Kommune mit 580 Einwohnern nicht allzu viel reißen kann, alleine. Heute? Arbeitet Ermershausen in den wichtigsten Bereichen mit Maroldsweisach zusammen, jenem Ort also, von dem man 1978 so gar nichts hatte wissen wollen: gemeinsamer Schulverband, gemeinsame Wasserversorgung, gemeinsame Kläranlage, gemeinsame Mitgliedschaft in der überörtlichen "Hofheimer Allianz". Natürlich habe man überlegt, sagt Bürgermeister Pfeiffer, ob man 25 Jahre Eigenständigkeit ein Jahr lang feiern solle. "Aber wir wollten auf keinen Fall wieder alte Gräben aufreißen", sagt er. So wie es jetzt ist, dieses schöne Miteinander zwischen zwei eigenständigen Gemeinden, so solle es bleiben.

Worin das Problem lag zwischen Ermershausen und Maroldsweisach? Landrat Wilhelm Schneider war mal Bürgermeister in Maroldsweisach, aber so genau kann er das gar nicht sagen. Gut, zwischen den Dörfern verlief einst die Grenze zweier Altlandkreise. Und natürlich gab's die klassische Rivalität wie zwischen vielen Orten, die sich zu nahe sind.

Die Vehemenz des Widerstands aber, die sei erst durch den staatlichen Rathaussturm provoziert worden. Traumatisierend habe der gewirkt, sagt der CSU-Politiker. 97 Prozent der Stimmen hat der Landrat - als Maroldweisacher! - bei der letzten Kommunalwahl in Ermershausen abgesahnt. Das sage eigentlich alles, findet er. Und das, obwohl es längst keinen CSU-Ortsverband mehr gibt in Ermershausen. Dessen Gründung hatte allein einen Zweck. "Ziel erreicht", sagt Schneider.

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