Süddeutsche Zeitung

Unter Bayern:Ein Hauch von Anarchie

Die Corona-Maßnahmen sind von hoher Komplexität. Doch einer hat sich bereits mehrfach hervorgetan beim Erklären

Kolumne von Franz Kotteder

Was wirklich wahnsinnig beruhigend ist in diesen Tagen: dass es in Bayern so viele Experten gibt, die genau wissen, was zu tun ist und was nicht. Gut, die Meinungen differieren ein wenig. Die einen meinen: Grippe halt, alles ein Schmarrn, und Bill Gates ist schuld. Die anderen sagen: Obacht, Maske tragen, um acht Uhr rein in geschlossene Räume und um zehn ab in die Heia.

Momentan haben in Bayern noch Letztere das Sagen. Auch wenn vereinzelt Gerichte, wie jetzt gerade in Augsburg, noch nicht so recht einsehen, warum Gastronomie draußen nach 20 Uhr gefährlicher ist als drinnen bis 22 Uhr. Es liegt am Trinken, hat das Wirtschaftsministerium gesagt, aber inzwischen eingesehen, dass das eine Schnaps-Idee war. Jetzt darf man also wieder draußen sitzen bleiben. Für die Bayern ist das schön, es verströmt einen leisen Hauch von Anarchie, den man hierzulande schätzt. Und man fühlt sich fast schon wieder jung, wie damals mit 16, als Alkohol eigentlich noch gar nicht erlaubt war und man um zehn überall den Saal verlassen musste. Das prägte bis zum ersten Ausflug nach Berlin mit den Spezln. Da stellte man dann verwundert fest, dass man nachts um eins bereits hundemüde war, während die Berliner erst langsam in die Kneipen aufbrachen.

Ob das bald wieder so sein wird? Man müsste jemanden fragen, der sich mit Corona-Maßnahmen und ihren Auswirkungen wirklich auskennt. Hubert Aiwanger zum Beispiel, den bayerischen Wirtschaftsminister, über den sich gerade so viele lustig machen. Dabei erweist er sich immer wieder als Meister der messerscharfen Logik ("Bayern und Deutschland wären sicherer, wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte") und großer Mathematiker. Gut, in der Wischmopp-Affäre hat er sich leicht verrechnet. Aber seine Kumpel-Doktrin (wie viele Kumpel passen an 15 Meter Biertisch?) ist von beeindruckender Klarheit. Und das in der neueren Forschung so titulierte "Brathendl-Dilemma" (was ist besser: ein bratfertiges halbes Hendl oder ein ganzes freilaufendes, das man nur mit einem Rechtsanwalt einfangen kann) lässt sich eigentlich nur noch mit dem berühmten Gedankenexperiment aus der Physik um Schrödingers Katze vergleichen.

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Quelle:
SZ vom 30.05.2020
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