Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Deutsch ja, Integration nein

Bayerische Schulen haben im vergangenen Jahr etwa 30 000 Schüler aus der Ukraine aufgenommen. Die älteren lernen in Brückenklassen ohne deutsche Kinder. Das schafft erst mal Geborgenheit - birgt aber große Nachteile.

Von Nina von Hardenberg

Sie mögen gewaltsam aus ihrem alten Leben gerissen worden sein, die Ankunft an den Schulen in Bayern hat man den ukrainischen Flüchtlingskindern aber vielerorts leicht gemacht. An seinem Gymnasium gab es Willkommensgruppen und die etwa 40 russischsprachigen Schüler hätten sich sehr intensiv um die Neuankömmlinge gekümmert, erzählt Martin Pfeifenberger, Schulleiter am Helene-Lange-Gymnasium in Fürth. Die Schüler führten die Neuen durchs Schulhaus, halfen bei der Anmeldung und Bürokratie. "Das hat unglaublich gut funktioniert", sagt der Direktor - und schiebt dann ein großes Leider nach: Leider sei dieser erste gute Kontakt inzwischen vielfach abgebrochen.

Seit Sommer 2022 nämlich lernen die älteren ukrainischen Schüler bayernweit ganz offiziell in Brückenklassen. Deutsch, Englisch und Mathe steht dort auf dem Lehrplan. Integration eher nicht. Zu diesem Fazit kommen bei einer Expertenanhörung des Ausschuss für Bildung und Kultus am Donnerstag im Landtag gleich mehrere Redner. "Unsere Brückenklasse ist ein Satellit im Schulhaus und das ist nicht gut", sagt etwa Rainer Lacler, Schulleiter an der Willi-Ulfig-Mittelschule in Regensburg. Auch seine Schule hatte anfangs eine eine Willkommensgruppe. Das habe sich "als leistbare Aufgabe" erwiesen. Die Schüler hätten dort rückblickend betrachtet zum Teil besser gelernt als in den jetzigen Brückenklassen.

Das Problem der Brückenklassen, da sind sich die meisten Redner einig, ist die extrem große Spanne unterschiedlicher Schüler, die dort unterrichtet werden. Elfjährige lernen dort gemeinsam mit 17-Jährigen; Kinder mit Förderbedarf neben Anwärtern fürs Gymnasium, Strebsame neben Lernverweigerern. Gleichzeitig haben die Brückenklassen ein relativ umfangreiches eigenes Programm, Unterricht in den normalen Klassen mit deutschen Kindern ist nur stundenweise vorgesehen. "Der Fortschritt des Spracherwerbs ist extrem langsam", sagt Schulleiter Lacler. Ein Teil der Schüler wolle auch schlicht kein Deutsch lernen. Er sieht hier eine Protesthaltung gegenüber der Fluchtentscheidung ihrer Mütter. Manche Kinder wollten nicht fliehen und sehnen sich nach alten Freunden, dem Vater und den Großeltern.

Wie können Flüchtlingskinder am besten beschult werden? Die Frage wird seit Beginn des Krieges in der Ukraine mit neuer Dringlichkeit diskutiert. Mehr als 200 000 ukrainische Schüler haben deutsche Schulen inzwischen aufgenommen, 30 000 sind es in Bayern. Sie sollen schnell integriert werden. Nur wie? Die Bundesländer gehen da verschiedene Wege: Manche setzten die Schüler direkt in die Regelkassen und bieten parallel dazu Deutschkurse an. Andere, wie etwa Berlin, schufen eigene Klassen für die Neuankömmlinge, in denen sie in geschütztem Rahmen Deutsch lernen sollten. Bayern versucht einen Mittelweg: Grundschülern verordnete Kultusminister Michael Piazolo (FW) ein "Sprachbad" in den normalen Grundschulklassen. Für die älteren Schüler wurden Brückenklassen eingerichtet, die auch im kommenden Jahr fortgeführt werden sollen.

Dass sie zunächst in einer muttersprachlichen Gruppe aufgefangen worden sein, sei für viele Kinder ein Segen gewesen, sagt Guido Terlinden, der beim Beratungszentrum Refugio München eine spezielle Psychotraumatherapie für Kinder- und Jugendliche anbietet. Nach dem Stress oder Trauma einer Flucht sei ein strukturierter Alltag, Kontakte mit anderen Kindern und Freizeitangebote erst Mal das Wichtigste. Aus den Grundschulen, an denen es keine Brückenklassen mehr gibt, seien zuletzt mehr Kinder mit emotionalen Belastungen und Verhaltensproblemen zu ihm in die Sprechstunde gekommen. Es kamen auch Grundschullehrer, die versuchen die ukrainische Kinder zu bändigen und sich damit ziemlich alleingelassen fühlten.

"Kinder lernen Deutsch aber nun mal vor allem von anderen Kindern"

Manche dieser Schüler litten an den Erlebnissen der Flucht. Andere seien aber auch von der Aufgabe, sich in einer unbekannten Sprache in ein neues Schulsystem einzufinden, überfordert gewesen, erklärt Terlinden. Häufig mussten die Schüler zudem am Nachmittag auch noch am Online-Unterricht auf Ukrainisch teilnehmen.

Die Brückenklassen mit den eigenen Landsleuten gaben den Kindern dagegen ein Gefühl von Geborgenheit. Trotzdem hält auch der Psychotherapeut Terlinden auf die Dauer nichts davon. Die Schüler hätten zu wenig Kontakt zu Deutschen. "Kinder lernen Deutsch aber nun mal vor allem von anderen Kindern", sagte er. Das bestätigt auch die geladene Wissenschaftlerin, Magdalena Michalak, Professorin für Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Uni Erlangen-Nürnberg. Deutsch lernen funktioniere nicht über Grammatik pauken, sondern bei gemeinsamen Erlebnissen mit Deutschen etwa im Sportverein, sagte sie. Getrennte Klassen könnten im schlechtesten Fall sogar zu einer Parallelkultur führen, warnte sie.

Brückenklassen können nach Ansicht der Experten also höchstens ein Anfang sein. Der Weg in die deutsche Gesellschaft führt über das normale Schulsystem. In Nürnberg könnten einer ersten Prognose zufolge im Herbst 40 Prozent der Schüler in Brückenklassen auf die Mittelschule übertreten, sagt Thomas Reichert, Fachlicher Leiter des Staatlichen Schulamts Nürnberg. Weitere zehn Prozent könnten es auf die Realschule oder das Gymnasium schaffen. "Wir sind auf dem Weg", sagt er. Auch in der Regelschule aber kann man diese Kinder nicht sich selbst überlassen. Sie brauchen massive Unterstützung und Förderunterricht, so Reichert.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5774588
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/mz
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.