Kinder aus der Ukraine:"Sie brauchen jetzt das Gefühl: Um mich kümmert sich jemand"

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Vor der zentralen Beratungsstelle im Nürnberger Heilig-Geist-Haus stehen am Mittwoch Dascha (10) und ihre Mutter Irina (31), Matwej (9) mit Olja (32), Nika (5) mit Mutter Juliya (26) und Waleriya (23) (v.l.n.r.). Drei Tage nach der Ankunft ist es ihr erster Trip in die Stadt. (Foto: Clara Lipkowski)

Unter den Geflüchteten aus der Ukraine sind viele Kinder. Nach drei Monaten Aufenthalt in Bayern sind sie schulpflichtig - doch das Bildungssystem ist erschöpft. Kann die Integration so klappen?

Von Florian Fuchs, Clara Lipkowski, Johann Osel und Viktoria Spinrad, Augsburg, München, Nürnberg

Da ist Nika, fünf Jahre. Ein Mädchen mit pinker Pudelmütze, das dem Grauen, dem sie entkommen ist, einfach mal die Zunge rausstreckt. Da ist Matwej, neun, ein zappeliger Junge mit dicken Schneeschuhen. Und da ist Dascha, zehn, sie trägt eine beige Pudelmütze. Spricht man sie an, dreht sie sich weg und schaut ein wenig verhalten. Zwei Cousinen und ein Cousin, wie Geschwister, vor ein paar Tagen sind sie mit ihren Müttern aus dem Südosten der Ukraine in Nürnberg angekommen. Dort stehen sie am Mittwochmorgen vor der städtischen Beratungsstelle. Es ist kalt, aber sonnig, immerhin, und sie warten auf Hilfe. Unterkunft, Kita, Schule. Wie geht es weiter?

Eine Frage, die sich dieser Tage auch die Verwaltungen stellen. Mit bis zu 100 000 Menschen rechnen bayerische Staatsregierung und Kommunen in den kommenden Wochen. Viele davon dürften Kinder wie Nika, Matwej und Dascha sein. Schutzbedürftige, möglicherweise traumatisiert. Und Neubürger, die angesichts der horrenden Entwicklungen im Heimatland wohl länger als nur ein paar Wochen im Freistaat bleiben werden, ja, hier möglicherweise bis auf weiteres eine neue Heimat suchen.

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Sie treffen nun auf ein vielerorts erschöpftes System. Auf Kitas, die in den Speckgürteln mit Mitarbeiterwohnungen um Betreuer buhlen. Auf Deutschlehrerinnen, die noch mitten im Studium sind und trotzdem angestellt wurden, weil der Bedarf so groß ist. Auf Schulen, deren Lehrer und Schulleiter ausgelaugt sind von den Strapazen zweier Corona-Schuljahre. Auf Schulpsychologen, die mit ihren wenigen Anrechnungsstunden jetzt schon kaum hinterherkommen. Auf ein System, in dem fast jede zehnte Lehrkraft fehlt, weil diese entweder krank oder schwanger ist.

Größere Klassen

Dass der Status quo den geflüchteten Kindern und Jugendlichen kaum gerecht werden dürfte, das machte auch der Kultusminister nach der Kabinettsitzung am Dienstag klar. Er persönlich gehe davon aus, dass man mit den jetzigen Kapazitäten nicht auskommen werde, sagte Michael Piazolo (FW). Es war ein bemerkenswerter Auftritt eines Ministers, der sonst gerne von "Lehrerbedarf" statt "Lehrermangel" spricht und stolz vorrechnet, dass Bayern nun zum erst Mal in der Geschichte des Freistaats mehr als 100 000 Lehrer beschäftigt.

Mit einer Niederlage war er in die Pressekonferenz gegangen, sein Wunsch, die Maskenpflicht an den Grundschulen fallen zu lassen, scheiterte am Widerstand der CSU. Vielleicht war es ja dieser Frust, der ihn am Ende Tacheles sprechen ließ. Darüber, dass man die Vielzahl der Lehrer mit zweitem Staatsexamen am Markt nicht finden werde. Dass man die Klassenstärken anheben und auch pensionierte Kräfte "animieren" müsse, "zumindest in der Übergangsphase".

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Gut getan habe diese realistische Einschätzung, sagt Simone Fleischmann am Tag danach. Die Präsidentin des bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV) spricht fast immer schnell und pointiert. Am Mittwoch aber klingt sie eher besorgt, wägt ihre Worte ganz genau. Sie weiß, dass Lehrer helfen wollen, aber auch, dass viele kaum mehr können.

Ein "Dilemma" sei das Ganze, sagt sie: Auf der einen Seite wolle man die ankommenden Kinder und Jugendlichen mit Herzblut in den Schulen beheimaten. Auf der anderen Seite spürten viele Lehrer, dass ihre Kräfte endlich sind. Weder gebe es genügend Lehrer, noch Schulsozialarbeiter, noch andere helfende Hände, sagt sie. "Uns gehen die Menschen aus, die helfen können", sagt sie. Auch für sie, die gerne mit der Leistungsbereitschaft der Lehrer prahlt, sind das ungewöhnliche Worte.

Nach drei Monaten greift für Kinder wie Matwej und Dascha die Schulpflicht. "Wir wollen für alle ein Angebot schaffen", bekräftigte der Kultusminister am Dienstag und identifizierte dabei den Vorteil, dass diesmal alle aus einem Kulturkreis kommen. Bei der Integration dürften auch die Deutsch- beziehungsweise Integrationsklassen helfen, die in den Jahren 2015/2016 von der Vorschule bis zum Gymnasien entstanden sind. Nur, dass es diese eben längst nicht überall gibt.

Väter in der Heimat

Das zeigen auch die Zahlen. Rund 375 Deutschklassen gibt es in Bayern an Grund- und Mittelschulen, 13 "Sprint"-Standorte an Realschulen, zwei Integrationsvorklassen an Wirtschaftsschulen, 14 Integrationsvorklassen an Beruflichen Oberschulen. Dazu kommt: Mit 45 Prozent arbeitet weniger als die Hälfte der bayerischen Lehrer in Vollzeit. "Für etwaige zusätzliche Klassen werden wir - wo regional erforderlich - auch zusätzliches Personal akquirieren", bekräftigt das Kultusministerium. Nur - woher? Die BLLV-Präsidentin setzt nicht zuletzt auf die Zivilgesellschaft. "Wir werden auf Jugendliche, Studierende und Pensionisten zurückgreifen müssen, um die Kinder und Jugendlichen zu integrieren", so Fleischmann.

Da viele von ihnen traumatisiert sein dürften, wird zunächst vor allem seelische Hilfe benötigt. Zumal die Väter in den meisten Fällen zurück im Land bleiben mussten. So ist es auch bei Nika, Matwej und Dascha. Ihre Väter sind weiterhin in der Heimat, sie müssen sich bereithalten, das Land zu verteidigen. Angesichts dieser Situation zähle nun vor allem weniger Fachkompetenzen als Ganzheitlichkeit, betont Fleischmann. "Sie brauchen jetzt erst mal das Gefühl: Um mich kümmert sich jetzt jemand."

100000 Unterkünfte

Dazu zählt freilich auch eine adäquate Unterkunft. 50 000 neue Unterkunftsplätze sollen nun geschaffen werden, hieß es am Mittwoch im Innenausschuss des Landtags, für weitere 50 000 sollen die grundlegenden Planungen angegangen werden. Es gebe schon Vereinbarungen etwa mit dem Deutschen Jugendherbergsverband und dem Bayerischen Hotel- und Gaststättenverband Dehoga, um die Ankommenden unterzubringen, so ein Vertreter des Innenministeriums. Um die Koordinierung zu vereinfachen, erwägt die Staatsregierung nun, den Katastrophenfall festzustellen - oder den immer noch bestehenden Corona-Katastrophenfall umzuwidmen.

Katastrophe? Spricht man mit der Augsburger Bildungsreferentin Martina Wild, dann klingt das, als gebe es auch Chancen inmitten des Grauens und dem Versuch, dessen Opfer aufzufangen. Zwar kann auch sie noch nicht wissen, wo, wie und wie viele Kinder demnächst betreut werden können. Dabei baut sie nicht nur auf heimische, sondern auch auf die Fachkompetenz von Geflüchteten.

Schließlich seien unter den vielen geflüchteten Frauen auch Erzieherinnen und Lehrkräfte. "Die gilt es nun einzubinden", so Wild. Sie hält es perspektivisch für möglich, dass einige dieser Frauen auch dauerhaft in Deutschland bleiben und hier arbeiten. Der Fachkräftemangel im Bildungssektor ist groß, die Jobperspektive blendend.

In Nürnberg sind Nika, Matwej und Dascha nun wieder raus aus der Beratung. Zwar hat eine Registrierung zur Wohnungssuche nicht geklappt, der Ansturm war schlicht zu groß. Aber sie halten nun Gutscheine in der Hand für Hygieneartikel und Kleidung beim Roten Kreuz. Immerhin. "Domoj, Domoj!", ruft Matwej. Das bedeutet: nach Hause. Es heißt aber jetzt: ins Wohnheim. Dorthin geht es am Nachmittag wieder, ein Schritt nach dem anderen.

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