Übergewichtige Kinder:Armut macht dick

Übergewichtige Kinder: Sport beginnt mit dem Schulweg: Viele Kinder werden von den Eltern in die Schule gefahren, obwohl sie auch zu Fuß gehen könnten.

Sport beginnt mit dem Schulweg: Viele Kinder werden von den Eltern in die Schule gefahren, obwohl sie auch zu Fuß gehen könnten.

(Foto: Christian Endt)

Die Untersuchungen von bayerischen Erstklässlern sind alarmierend: Jedes zwölfte Kind ist schon bei der Einschulung übergewichtig. Auffällig ist, dass der Anteil an dicken Kindern in den verschiedenen Regierungsbezirken sehr unterschiedlich ist.

Von Tina Baier

In beinahe jeder Schulklasse gibt es diesen einen Buben oder dieses eine Mädchen, das auffällt, weil es dick ist. Im Kinderbuchklassiker "Der kleine Nick" von René Goscinny und Jean-Jacques Sempé ist es der dicke Otto, der immer isst und immer fettige Finger hat, "aber sonst ein prima Kumpel" ist. Die Schulklassen in Bayern sind da keine Ausnahme. Jedes zwölfte Kind im Freistaat (8,4 Prozent) ist schon bei der Einschulung übergewichtig. Das geht aus der Antwort des bayerischen Gesundheitsministeriums auf eine Anfrage der SPD-Familienpolitikerin Simone Strohmayr hervor.

9608 Kinder waren demnach bei der Schuleingangsuntersuchung für das Schuljahr 2009/2010 übergewichtig. 3692 von ihnen sogar adipös, also krankhaft fettsüchtig. Aktuellere Daten liegen nach Auskunft aus dem Ministerium nicht vor. Auffällig ist, dass der Anteil an dicken Kindern in den verschiedenen Regierungsbezirken sehr unterschiedlich ist. Die wenigsten gibt es mit 7,8 Prozent in Oberbayern; die meisten mit 9,4 Prozent in Mittelfranken. Dazwischen liegen Schwaben (8,3 Prozent), Oberfranken (8,6 Prozent), Niederbayern (8,9 Prozent) und die Oberpfalz mit 9,1 Prozent. Bayernweit die wenigsten übergewichtigen Kinder gibt es mit 4,7 Prozent im schwäbischen Landkreis Aichach-Friedberg, die meisten im oberfränkischen Wunsiedel (12,5 Prozent).

Übergewichtige Kinder: Für Anja Gerstner-Liss, die die Schulen in Aichach-Friedberg im Fachbereich Sport berät, ist der Zeitmangel ein Grund für Übergewicht bei Kindern.

Für Anja Gerstner-Liss, die die Schulen in Aichach-Friedberg im Fachbereich Sport berät, ist der Zeitmangel ein Grund für Übergewicht bei Kindern.

Wie lassen sich derart große Unterschiede erklären? "Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen niedrigem sozialen Status und Übergewicht", sagt Sabine Wipfinger, Oberärztin der Klinik Schönsicht in Berchtesgaden, in der übergewichtige Kinder behandelt werden. Die häufigste Ursache ist ihrer Erfahrung nach Bewegungsmangel in Kombination mit kalorienhaltiger Ernährung. "Wenn wir bei der Anamnese nach dem Medienkonsum unserer Patienten fragen, geben die Eltern nicht selten sechs bis sieben Stunden pro Tag an. Oft haben die Kinder ihren ungesunden Lebensstil von den Eltern übernommen. "Übergewichtige Kinder haben oft übergewichtige Eltern", sagt Wipfinger.

Zu wenig Zeit für die Belange der Kinder

Für Anja Gerstner-Liss, die die Schulen im Landkreis Aichach-Friedberg im Fachbereich Sport berät, ist der Zeitmangel in der Gesellschaft ein Grund für Übergewicht bei Kindern. Viele Eltern fahren ihren Sohn oder ihre Tochter morgens mit dem Auto zur Schule, weil das Zeit spart. Und einen Müsliriegel in die Brotzeitbox zu legen, geht schneller als eine Gurke zu schälen oder einen Apfel zu schneiden. Gerstner-Liss empfiehlt, dass sich Kinder im Unterricht zusätzlich zu den Sportstunden mindestens zwanzig Minuten am Tag bewegen sollten.

"Die Kinder haben in der Schule viel zu wenige Bewegungsmöglichkeiten", sagt Strohmayr. In der ersten Klasse etwa stehen im Stundenplan nur zweimal 45 Minuten Sport. In den neunziger Jahren waren es noch doppelt so viele. Am Gymnasium wurden bei der Einführung des G 8 Sportstunden gestrichen. Im G 9 hatten alle Schüler von der fünften bis zur zehnten Klasse vier Stunden Sport pro Woche; derzeit sind es in der Unterstufe drei, danach nur noch zwei Stunden. In der Regel gibt es allerdings freiwillige Zusatzangebote.

Problemfall Brotzeitbox

Gesunde Ernährung ist an den bayerischen Grundschulen ein wichtiges Thema, das sogar im Lehrplan steht. Es ist heikler als man zunächst denkt, denn für das Essen ihrer Kinder sind in erster Linie die Eltern zuständig - nicht die Schule. "Wir haben jedes Jahr eine Handvoll Erstklässler, bei denen wir uns über die Ernährung Gedanken machen", sagt Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrerverband (BLLV) und Rektorin einer Grundschule in Poing bei München. Kinder, die in der Brotzeitbox fast nur Süßigkeiten und als Getränk Limo oder Spezi dabei haben. "Viele Eltern reagieren garstig, wenn die Lehrerin sie oder das Kind auf den Inhalt der Brotzeitbox anspricht", sagt Fleischmann. Und in der Tat gehe es die Schule eigentlich nichts an, ob ein Kind Toastbrot mit Nutella in die Pause mitbringt oder Vollkornbrot mit Gurken und Karotten.

Lehrerinnen müssten das Thema deshalb mit viel Fingerspitzengefühl angehen. Natürlich empfiehlt auch Fleischmann Vollkornbrot, Obst und Gemüse für die Brotzeitbox und als Getränk am besten Wasser. Eltern sollten aber auch darauf achten, ihrem Kind etwas mitzugeben, das ihm schmeckt. "Es bringt nichts, einem Kind, das partout kein Wasser mag, Wasser in die Flasche zu füllen, mit der Folge, dass es den ganzen Tag nichts trinkt", sagt sie. Und viel schlimmer als Toast mit Nutella seien "die leeren Brotzeitboxen". Immer wieder gebe es Kinder, die weder frühstücken noch eine Brotzeit mitbekommen.

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